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Vertretung in Luxemburg
Rede23. März 2022Vertretung in LuxembourgLesedauer: 6 Min

Sitzung des Europäischen Rates in Paris am 10. März 2022 und die Vorbereitung der Tagung des Europäischen Rates am 24.-25. März 2022

Participation of Ursula von der Leyen, President of the European Commission, to the plenary session of the EP

Vielen Dank, Frau Präsidentin,

Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

tagtäglich sehen wir die schrecklichen Bilder belagerter ukrainischer Städte, die Zerstörung von Mariupol, Charkiw und der Vororte Kiews. Heute möchte ich mit Ihnen aber für einen Moment über die Front hinweg auf die besetzte Ukraine blicken. Denn nach Belagerung und Beschuss ist die Besatzung genauso schlimm. Frische Lebensmittel sind Mangelware. In Krankenhäusern und Apotheken werden die Medikamente knapp. Hunderte Menschen wurden von russischen Besatzungstruppen inhaftiert. Und dennoch gehen täglich Tausende Ukrainer auf die Straße, um gegen die Invasion zu protestieren. In Cherson, in Berdjansk, in Melitopol schwenken sie ihre blau-gelben Fahnen vor den Besatzungssoldaten. Und lassen sich nicht unterkriegen, auch dann nicht, wenn sie von russischen Soldaten verprügelt oder gar erschossen werden. Meine Damen und Herren Abgeordnete, wenn Freiheit einen Namen hat, so lautet er „Ukraine“. Und die ukrainische Flagge ist heute die Flagge der Freiheit.

All unsere Bemühungen zielen derzeit darauf ab, diesen Krieg zu einem strategischen Misserfolg für Putin zu machen. Deshalb haben die Mitgliedstaaten vereinbart, 1 Mrd. EUR an Ausrüstung für die tapferen ukrainischen Kämpfer bereitzustellen. Um der Ukraine zu helfen, müssen wir Putin aber auch die Ressourcen kappen, die er zur Finanzierung seines schrecklichen Krieges braucht. Letzte Woche haben wir daher ein viertes Paket beispielloser Sanktionen beschlossen. Wir erkennen Russland den Meistbegünstigtenstatus ab und beschränken so seinen Zugang zu unseren Märkten drastisch. Denn Russland soll nicht von der regelbasierten Ordnung profitieren, die es auf so schändliche Weise verletzt. Neue europäische Investitionen im russischen Energiesektor werden komplett auf Eis gelegt. Denn wir wollen unabhängig von russischer Energie werden — und nicht noch abhängiger. Und wir üben weiterhin Druck auf russische Eliten im Gefolge Putins aus, beschlagnahmen ihre Jachten, ihre Luxusvillen und ihre teuren Autos. Denn es ist nicht einzusehen, dass diejenigen, die Putins Krieg unterstützen, auf großem Fuß leben, während auf die Ukraine Bomben fallen.

Diese Maßnahmen kommen zu den drei übrigen Sanktionspaketen hinzu. Sie treffen die russische Wirtschaft bereits schwer. Seit Anfang des Monats ist der Rubel im freien Fall. Die russische Zentralbank hat den Leitzins auf 20 % verdoppelt. Ratingagenturen sehen die Bonität russischer Staatsanleihen mittlerweile im Ramschbereich. Hunderte weltweit tätiger Unternehmen verlassen Russland, weil sie Putins Krieg nicht mitfinanzieren wollen. Das, meine Damen und Herren Abgeordnete, ist das Erbe, das Putin Russland hinterlässt. Er ist obendrein zum ärgsten Feind des russischen Volkes geworden.

In erster Linie jedoch ist er verantwortlich für die menschliche Tragödie in der Ukraine. Bislang haben über drei Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Die Hälfte davon Kinder. Jede Sekunde kommt ein Kind aus der Ukraine in unserer Union an. Jede Sekunde. Während ich also hier im Herzen der europäischen Demokratie zu Ihnen spreche, treten 800 Kinder die Flucht aus der Ukraine an – tapfer, traumatisiert und hilfsbedürftig. Sie lassen ihre Brüder und Väter zurück und wissen nicht, ob sie sie je wiedersehen werden. Und es ist ergreifend, die europaweite Welle der Solidarität für unsere ukrainischen Freunde zu sehen. Ich bin überwältigt von der enormen Großzügigkeit der Menschen in Europa, der Mitgliedstaaten und der Republik Moldau. Auf europäischer Ebene werden wir alles dafür tun, um die Mitgliedstaaten zu unterstützen, die Kriegsflüchtlinge aufnehmen. Wir haben dafür gesorgt, dass der Fonds für regionale Entwicklung, der Kohäsionsfonds und REACT-EU möglichst flexibel eingesetzt werden können, damit Städte und Regionen in Schulen, Wohnraum und Gesundheitsversorgung investieren können. Und vielen, vielen Dank für Ihre Unterstützung; ich habe gerade gesehen, dass wir uns Richtung 17 Mrd. EUR bewegen. Herzlichen Dank! Aber ich fürchte, das reicht nicht. Wir wollen unseren Mitgliedstaaten, die eine solch außergewöhnliche Solidarität zeigen, jetzt rasch vorausgreifend 3,4 Mrd. EUR Liquidität zur Verfügung stellen. Ich vertraue auf Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete, dass dieses Geld rasch bewilligt wird. Denn es ist Ausdruck unserer gemeinsamen Verpflichtung zur Unterstützung des ukrainischen Volkes.

Sehr verehrte Damen und Herren Abgeordnete,

wir sollten uns keine Illusionen über die Zukunft machen. Wir stehen vor einer tektonischen Verschiebung, die es seit dem Fall der Berliner Mauer nicht gab. Dieser Krieg hat weitreichende Folgen für Europas Sicherheit– und ich spreche nicht nur von militärischer Sicherheit. Auch die Energieversorgungssicherheit und die Ernährungssicherheit stehen auf dem Spiel. Lassen Sie mich zunächst etwas zum Thema Energie sagen. Energiepolitik ist heute auch Sicherheitspolitik. Daher hat die Kommission Maßnahmen vorgeschlagen, mit denen wir unsere Gasimporte aus Russland erheblich verringern können. Das ist zwar eine große Herausforderung – aber machbar. Den Weg dafür haben wir bereits geebnet. Nun müssen wir unsere Bemühungen verstärken. Mit unserem neuen Vorschlag, REPowerEU, können wir bei diesem Übergang noch mehr Tempo machen. Erstens durch beschleunigte Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien wie Wasserstoff und Biogas – das ist eine strategische Investition in unsere Sicherheit. Zweitens durch rasche Investitionen in Energieeffizienz. Jeder und jede kann dazu beitragen, unsere Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Und drittens durch die Diversifizierung unserer Gasversorgung – weg vom russischen Gas und hin zu verlässlichen Lieferanten. Präsident Biden und ich besprechen morgen, wie Flüssiggas-Lieferungen aus den Vereinigten Staaten in die Europäische Union in den kommenden Monaten weiter priorisiert werden können. Unser Ziel sind zusätzliche Lieferungen für die kommenden zwei Winter.

Sehr verehrte Damen und Herren Abgeordnete,

wir sind stärker, wenn wir die Vorteile unseres Binnenmarkts nutzen und solidarisch sind. In diesem Sinne haben wir soeben Vorschläge vorgelegt, um gemeinsam gegen eine der Ursachen unserer Energiekrise vorzugehen – und das sind die hohen und volatilen Gaspreise. Wir wollen Gas gemeinsam einkaufen und schlagen strengere Speichervorschriften vor. Denn anstatt uns gegenseitig zu überbieten und die Preise in die Höhe zu treiben, sollten wir lieber als Einheit auftreten und als Union Gas beschaffen, als Europäer – und nicht als 27 verschiedene Mitgliedstaaten. Darüber hinaus sollten wir unsere Gasspeicheranlagen in einigen Mitgliedstaaten nutzen, um eine EU-weite Gasversorgung zu gewährleisten. Dies kommt nicht nur den jeweiligen Mitgliedstaaten zugute, sondern auch ihren Nachbarn. Blicken wir z. B. auf die baltischen Länder: Litauen verfügt über eines der größten Terminals für Flüssiggas in der Region, Lettland besitzt hingegen massive unterirdische Speicheranlagen. Bereits heute wird Flüssigerdgas, das in Klaipėda ankommt, genutzt, um Speicheranlagen in Lettland zu füllen. Und das kommt natürlich auch Estland zugute. Das ist der richtige Weg.

Und schließlich hat Russlands Krieg natürlich nicht nur Auswirkungen auf die Energieversorgung. Er gefährdet auch die Nahrungsmittelversorgung und treibt die Nahrungsmittelpreise in die Höhe. Die Europäische Union stellt bis 2024 mindestens 2,5 Mrd. EUR bereit, um jene Regionen zu unterstützen, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Heute Morgen haben wir außerdem eine ganze Reihe von Sondermaßnahmen beschlossen, um den europäischen Landwirten zu helfen. Mit einem Paket von 500 Mio. EUR wollen wir die Landwirte unterstützen, die am stärksten von der Krise getroffen wurden. Wir sollten nämlich nicht vergessen, dass die Ukraine allein mehr als die Hälfte des Angebots an Weizen im Rahmen des Welternährungsprogramms bereitstellt. Die Bombardierung und der ständige Beschuss macht es den ukrainischen Landwirten unmöglich, zu säen. Zusätzlich blockiert Putin Hunderte von Schiffen im Schwarzen Meer, die mit Weizen gefüllt sind. Die Auswirkungen werden deshalb weitgehend spürbar sein - von Libanon, Ägypten und Tunesien bis hin zu Afrika und dem Fernen Osten. Präsident Putin, lassen Sie diese Schiffe passieren! Andernfalls sind Sie nicht nur für Krieg und Tod, sondern auch für Hunger und Hungersnot verantwortlich.

Sehr verehrte Damen und Herren Abgeordnete,

heute Abend vor einem Monat begann die russische Invasion. Vom allerersten Tag an steht Europa geschlossen. Und das soll auch so bleiben. Wenn es etwas gibt, das Putin nicht vorausgesehen hat, dann ist es unser Zusammenhalt, unser rasches Handeln und unsere Entschlossenheit. Er muss wissen, dass wir uns von diesem Kurs nicht abbringen lassen.

Es lebe die Einheit! Und es lebe Europa!

Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
23. März 2022
Autor
Vertretung in Luxembourg