Sehr geehrter Präsident Selenskyj, lieber Wolodymyr,
es ist eine Ehre und ein Privileg, am 9. Mai hier zu sein. Der 9. Mai ist ein Tag, um Frieden und Einheit in Europa zu feiern, sich der Lehren aus unserer Geschichte zu erinnern und zu versprechen, eine bessere Zukunft für künftige Generationen zu gestalten. Deshalb ist es passend, lieber Wolodymyr, hier in Kiew den 9. Mai feierlich zu begehen. Und ich freue mich sehr über Ihre Entscheidung, den 9. Mai auch in der Ukraine zum Europatag zu erklären.
Kiew als Hauptstadt der Ukraine ist das pulsierende Herz der europäischen Werte. Die Ukraine ist an vorderster Front, wenn es um die Verteidigung all dessen geht, was uns Europäerinnen und Europäern lieb und teuer ist: unsere Freiheit, unsere Demokratie, unsere Meinungs- und Gedankenfreiheit. Heldenhaft kämpft die Ukraine für jene Ideale Europas, die wir heute feiern. In Russland haben Putin und sein Regime diese Werte zerstört. Und jetzt versuchen sie das auch hier in der Ukraine. Weil sie Angst haben vor dem Erfolg, für den Sie stehen, und vor dem Vorbild, das Sie sind. Und weil ihnen Ihr Weg in die Europäische Union Angst macht.
Doch der Aggressor ist schon jetzt dramatisch gescheitert. Die Ukraine hat den Angriffen widerstanden – und wehrt sich mit Erfolg. Warum? Zuallererst, weil die Ukraine als eine freie Gesellschaft auf die unerschütterliche Tapferkeit von Millionen Männern und Frauen zählen kann. Sie kämpfen für unsere europäischen Werte – während die Angreifer aus Gefängnissen geholt und von der Straße aufgelesen wurden, um an die Front geschickt zu werden.
In diesem Kampf stehen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten fest an der Seite der Ukraine. Der 9. Mai symbolisiert auch noch etwas anderes: Solidarität. Eine Solidarität gewachsen aus den Lehren der großen Konflikte des 20. Jahrhunderts. Das ist der Geist unserer Demokratien. Lieber Präsident Selenskyj, ich bin heute auch gekommen, um Ihnen zu versichern, dass Sie auf genau diese Solidarität zählen können – so lange, wie es nötig ist.
Wir hatten sehr gute Gespräche. Wir arbeiten an verschiedenen wichtigen Themen. Über einige davon möchte ich sprechen: Die erste Priorität ist, der Ukraine bei der Beschaffung der Munition zu helfen, die sie braucht. Sie wissen, dass wir hier drei Initiativen verfolgen. Am schnellsten handeln müssen wir bei der unverzüglichen Freigabe von Munition aus den Beständen der Mitgliedstaaten. Dafür haben wir 1 Mrd. EUR bereitgestellt, und es funktioniert. Beträchtliche Munitionsbestände wurden geliefert oder sind auf dem Weg in die Ukraine. Aber es muss – dringend – mehr passieren. Deshalb werden in einer zweiten Initiative, auf die wir uns vergangene Woche verständigt haben, über die Europäische Friedensfazilität 1 Mrd. EUR zur Beschaffung von 155- und 152-Millimeter-Munition durch die Mitgliedstaaten bereitgestellt. Um hier schneller voranzukommen, hilft die dritte Initiative den Mitgliedstaaten, die Produktion zu beschleunigen und auszubauen und bei den Munitionslieferungen Tempo zu machen, um den Bedarf der Ukraine und der Mitgliedstaaten zu decken.
Das zweite Thema ist die finanzielle Unterstützung. Wir setzen unsere unerlässliche finanzielle Hilfe für die Ukraine fort. Sie kennen bereits das Paket im Umfang von 18 Mrd. EUR für das laufende Jahr, aus dem wir bis jetzt schon 6 Mrd. EUR ausgezahlt haben. Dies trägt erheblich dazu bei, die Haushaltslücke in der Ukraine zu schließen. Und natürlich arbeiten wir an der finanziellen Unterstützung über 2023 hinaus.
Das dritte Thema wurde schon erwähnt: die Sanktionen. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Putins Kriegsmaschinerie lahmzulegen und seine Einnahmen versiegen zu lassen. Unsere Sanktionen zeigen Wirkung. Und wir haben – nur als Beispiel – unsere Importe aus Russland um fast zwei Drittel reduziert und das Land damit um wichtige Einnahmequellen gebracht. Durch unsere zehn Sanktionspakete zahlt der Kreml schon jetzt einen hohen Preis. Vergangenen Freitag hat die Kommission ihren Vorschlag für das elfte Sanktionspaket angenommen. Bei diesem Paket geht es vor allem darum, die Umgehung von Sanktionen zu bekämpfen. Wir arbeiten hierbei in enger Abstimmung mit unseren internationalen Partnern, insbesondere den G7.
Lassen Sie mich ganz kurz auf die drei Elemente in diesem Paket eingehen. Erstens machen wir unsere bisherigen Werkzeuge noch wirksamer: Wir weiten unser Durchfuhrverbot auf zusätzliche Produkte aus. Beispielsweise werden moderne Technologieerzeugnisse oder Flugzeugteile, die über Russland in Drittländer gehen, nicht mehr unter die Kontrolle des Kremls gelangen. Allerdings müssen wir zusätzliche Maßnahmen ergreifen. In jüngster Zeit beobachten wir eine Zunahme höchst ungewöhnlicher Handelsströme zwischen der Europäischen Union und bestimmten Drittländern. Diese Güter landen letztlich in Russland. Aus diesem Grund schlagen wir – zweitens – ein neues Werkzeug vor, mit dem die Umgehung von Sanktionen bekämpft werden soll. Wenn wir feststellen, dass Güter aus der Europäischen Union in Drittländer und dann weiter nach Russland verbracht werden, könnten wir den Mitgliedstaaten vorschlagen, diese Exporte mit Sanktionen zu belegen. Dieses Werkzeug werden wir nur als letztes Mittel und nur mit größter Umsicht einsetzen. Zuvor muss eine sehr eingehende Risikoanalyse durchgeführt und die Genehmigung der EU-Mitgliedstaaten eingeholt werden. Es sollte jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass wir die Umgehung von Sanktionen bekämpfen. Das dritte Element dieses Pakets sieht wie folgt aus: Wir schlagen vor, aus Russland und aus Drittländern stammende „Schattengesellschaften“, die absichtlich unsere Sanktionen umgehen, mit Verboten zu belegen. Dies alles hat mit dem 11. Sanktionspaket zu tun.
Das vierte Thema, das heute behandelt wurde, betrifft die Zeit nach dem Krieg: Ich möchte die Zukunft und den Weg der Ukraine in Richtung Mitgliedschaft in der Europäischen Union ansprechen. Die Kommission hat klar und deutlich sieben Schritte festgelegt, die die Ukraine unternehmen muss, bevor wir den Mitgliedstaaten die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfehlen können. Die Ukraine arbeitet unermüdlich und intensiv an diesen sieben Schritten, und sie lässt sich dabei nicht von den Schwierigkeiten beirren, die mit der Durchführung von Reformen mitten im Krieg verbunden sind. Ich zolle diesen herausragenden Bemühungen tiefen Respekt. Sie können auf unsere Unterstützung und unsere Expertise während des gesamten Prozesses zählen. Die Arbeiten müssen weitergehen. Die Kommission wird dem Rat Bericht erstatten. Zunächst mündlich im Juni, vor allem aber im Oktober mit einem schriftlichen Bericht.
Sehr geehrter Präsident Selenskyj,
Sie haben das Thema Getreidelieferungen angesprochen. Die Situation ist sehr herausfordernd, und wir brauchen Lösungen. Jetzt ist unmittelbar vorrangig, dass der Transit von Getreide ohne Unterbrechungen und möglichst kostengünstig aus der Ukraine in Richtung Europäische Union erfolgen kann. Dafür bedarf es einer sehr engen Zusammenarbeit aller Beteiligten. Aus diesem Grund richten wir gemeinsam eine Koordinierungsplattform ein, damit diese Solidaritätskorridore wieder in vollem Umfang genutzt werden können. Das ist sehr wichtig.
Lieber Wolodymyr,
die Ukraine kämpft für die Ideale unseres Europa, das wir heute feiern, um auf Dauer Einheit und Frieden zu schaffen und für die europäischen Grundwerte Freiheit, Vielfalt und Menschlichkeit einzustehen. Wir sollten niemals vergessen, dass uns Frieden in Europa im vorigen Jahrhundert lange Zeit unmöglich, unwahrscheinlich und in allzu weiter Ferne erschien. Aber Frieden wurde erreicht – trotz des Leids und der Teilungen durch den Krieg. Wenn wir uns heute in einem Land befinden, das Opfer eines unsinnigen Angriffs ist, mögen einige es für unmöglich, unwahrscheinlich oder in allzu weiter Ferne halten, über eine freie und friedliche Ukraine in der Europäischen Union zu sprechen. Europa aber ist dabei, das Unmögliche möglich zu machen. Und genau das tut auch die Ukraine.
Slava Ukraini.
Einzelheiten
- Datum der Veröffentlichung
- 9. Mai 2023
- Autor
- Vertretung in Luxembourg