Zum Hauptinhalt
Vertretung in Luxemburg
Rede14. Mai 2023Vertretung in LuxembourgLesedauer: 7 Min

Rede von Präsidentin von der Leyen anlässlich der Verleihung des Internationalen Karlspreis zu Aachen 2023

Visit of Ursula von der Leyen, President of the European Commission, to Germany

"Es gilt das gesprochene Wort!"

Sehr geehrter Herr Präsident Wolodymyr Selenskyj,

Bundeskanzler Olaf Scholz,

Ministerpräsident Mateusz Morawiecki,

sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen,

sehr geehrter Herr Jürgen Linden,

meine Damen und Herren,

Wenn man die Stadt Aachen betritt und diese Fülle an Zeugnissen der Antike und wuchtigen Denkmälern sieht, dann spürt man sie mit allen Sinnen, die Tragweite unserer europäischen Geschichte. Ihre Gewalt und ihre Schönheit. Ihren Schmerz und ihren Fortschritt. Ihre Jahrhunderte alten Spaltungen und ihre Jahrzehnte der noch jungen Einheit. Dieser Preis – so hat es sein Gründer Kurt Pfeiffer gesagt – steht für die „Verpflichtung von höchstem ethischem Gehalt“ um das nächste Kapitel, unserer gemeinsamen Geschichte besser zu schreiben. Er nimmt uns Europäerinnen und Europäer in die Pflicht, um – ich zitiere  „die höchsten irdischen Güter zu verteidigen – Freiheit, Menschlichkeit und Frieden und die Zukunft der Kinder und Enkel zu sichern“.

Der Preisträger und die Menschen seines Landes, die wir heute mit ihm würdigen, sind dieser Pflicht besser nachgekommen, als wir alle es jemals könnten. Sie kämpfen buchstäblich für Freiheit, Menschlichkeit und Frieden. Sie sichern mit ihrem Blut und ihrem Leben die Zukunft ihrer Kinder. Und auch unserer Kinder. Präsident Selenskyj und die Menschen der Ukraine wissen genau, wofür sie kämpfen. Und sie haben verstanden, was unser Europa und unsere Union ausmacht.

Meine Worte können dem nicht annähernd gerecht werden. Aber die Worte Präsident Selenskyjs können dies sehr wohl. In seiner bemerkenswerten Ansprache zum Amtsantritt 2019 wandte er sich mit folgenden Worten an die Menschen der Ukraine: „Wir haben uns für den Weg nach Europa entschieden, aber Europa ist nicht irgendwo dort draußen. Europa ist hier [in unseren Köpfen], und wenn es einmal dort angekommen ist, wird es überall sein, in der gesamten Ukraine.“

Präsident Selenskyj, lieber Wolodymyr, ich bin fest davon überzeugt, dass deine Worte wahr werden. Und wir werden unermüdlich daran arbeiten.

Meine Damen und Herren,

die Geschichte der Leiden erzählt zugleich von Stärke und Mut. Die Ukraine beweist das jeden Tag seit diesem verhängnisvollen Morgen, an dem Russland mit seinen Panzerkolonnen und Zehntausenden Soldaten die Grenze überrollte.

Als ich Wolodymyr Selenskyj wenige Wochen danach in einem von Bomben erschütterten Kiewer Regierungsviertel traf, hatte ich wenige Stunden zuvor Butscha besucht. Ich habe die Massengräber neben der Kirche gesehen, die dicht an dicht liegenden Leichensäcke. Die frühen grausamen Symbole von Putins Krieg. Ich werde niemals das Bild der unzähligen Kerzen vergessen: jede einzelne stand für einen Vater oder eine Mutter, einen Sohn oder eine Tochter, einen Bruder oder eine Schwester, ein Leben, das sinnlos ausgelöscht worden war. Das Gefühl der Menschen war Wut und Verzweiflung.

Aber da war auch ein fester Glaube. Der Glaube daran, dass die Ukraine sich wehrt und das Blatt sich wendet. Ich hatte mit Präsident Selenskyj in diesen frühen düsteren Tagen und Wochen oft am Telefon gesprochen. Ich kannte bereits seinen Mut und seine Entschlossenheit.  Aber als ich an diesem Tag in Kiew in seine Augen blickte, war ich zutiefst berührt von der unerschütterlichen Standhaftigkeit, die er ausstrahlte. Präsident Selenskyj hat den unbedingten Glauben, dass diejenigen, die für etwas kämpfen, immer stärker sein werden als diejenigen, die anderen ihr Joch aufzwingen wollen.

So schreiben wir das nächste Kapitel unserer Geschichte. Und genau deswegen, wegen Ihres Mutes und ihrer Widerstandskraft, Ihrer Opfer und Ihrer Werte, kann ich mir keinen würdigeren Träger dieses Karlspreises vorstellen als Präsident Selenskyj und die Menschen der Ukraine. Präsident Selenskyj und die Menschen der Ukraine kämpfen genau für die Werte und die Verpflichtung, die dieser Preis verkörpert. Und damit kämpfen sie zugleich für unsere Freiheit und unsere Werte. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und die Freiheit, sein eigenes Schicksal zu gestalten. Dafür kämpft die Ukraine.

Und genau das versucht Putin mit aller Gewalt auszulöschen. Putin zerstört das Friedenswerk, das wir seit Ende des Zweiten Weltkriegs und später nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gemeinsam aufgebaut haben. Putin will das Europa zerstören, das von Karlspreisträgern wie Gyula Horn und Václav Havel, François Mitterrand und Helmut Kohl und vielen anderen geschaffen wurde.

Putin versucht, die Errungenschaften von 1989 und den folgenden Jahrzehnten zunichtezumachen, als die Menschen in Europa den Eisernen Vorhang niederrissen und „Europa sein Gesicht für immer veränderte“, wie es der Historiker und Karlspreisträger Timothy Garton Ash so treffend formulierte.

Für jede Generation kommt der Moment, an dem sie für die Demokratie und das, woran sie glaubt, aufstehen muss. Für uns ist dieser Moment jetzt gekommen. Und so wie die mutigen Männer und Frauen, die für ihre Freiheit kämpften, das Gesicht Europas vor mehr als 30 Jahren verändert haben, so entscheiden heute unsere Handlungen darüber, welches Gesicht unser Europa in der Zukunft haben wird.

Die Ukraine hat der Welt gezeigt, wie stark ihre Gesellschaft ist. Ihr unbändiger Freiheitswille, hat die Welt verblüfft. Ihre Gewissheit und Zielstrebigkeit, wenn es um ihren Platz in Europa geht, ist eine Inspiration für uns alle. Seit zehn Jahren haben die Menschen in der Ukraine immer wieder ihre Entschlossenheit auf ihrem Weg zur Europäischen Union bewiesen. Niemals können wir die Hingabe und den Mut der Menschen in der Ukraine aufwiegen. Aber wir können fest an Ihrer Seite stehen.

Ich spreche nicht nur über die vielen Milliarden an Unterstützung für die Ukraine, die harten Sanktionen gegen Russland, oder die modernen Waffen und die Munition, die wir der Ukraine zugesagt und geliefert haben.

Ich spreche auch darüber, die Ukraine zu unterstützen auf ihrem Weg in unsere Union und sie auf die Zukunft vorzubereiten - obwohl der Krieg noch tobt. Ich spreche aber auch über die zahllosen Europäerinnen und Europäer, die ihre Türen und Herzen für ukrainische Geflüchtete geöffnet haben. 4 Millionen Menschen, die wegen Putins Bomben ihre Heimat verlassen mussten, haben Zuflucht gefunden. Ich möchte den vielen Freiwilligen danken und meinen Respekt zollen – den Städten und Gemeinden, den Lehrkräften und Sportvereinen, die die ukrainischen Kinder so herzlich aufgenommen haben, und den zahllosen Unternehmen, die ihren Eltern Arbeitsplätze angeboten haben. Das ist Europa im besten Sinne.

Meine Damen und Herren,

dank Präsident Selenskyj, dank der Menschen in der Ukraine, dank unseres Zusammenhalts ändert sich wieder das Gesicht Europas. Die Ukraine verkörpert all das, wofür die Europäische Idee steht: den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen, den Kampf für Werte und Freiheit, das Ringen für Frieden und Einheit. Deshalb bin ich überzeugt, dass die Ukraine sich durchsetzt, dass sie den Frieden gewinnt, und dass ihr Traum von einem Platz in unserer europäischen Familie wahr werden wird.

Die Sacharow Preisträgerin Oleksandra Matwitschuk sagte vor wenigen Tagen: „Keiner ersehnt den Frieden mehr als die Menschen in der Ukraine. Aber Frieden kommt nicht daher, dass das angegriffene Land seine Waffen niederlegt. Das ist kein Frieden, das ist Besatzung. Und Besatzung ist so schlimm wie Krieg - nur in einer anderen Form.“ Sie hat so recht. In unserer Europäischen Union sprechen wir viele verschiedene Sprachen. Aber in allen Sprachen assoziieren wir mit „Sieg“ Frieden und Gerechtigkeit – gerechten Frieden.

Nun - wie immer, wenn es um Europa geht, wird es Skeptiker geben, die sagen: Das ist unmöglich, das ist Fantasterei. Aber was wäre, wenn das tatsächlich unsere Aufgabe ist: Zusammenstehen und das Unmögliche möglich machen? Auch diese Worte stammen von Präsident Selenskyj: „Wir sprechen von Sieg, wenn die Waffen schweigen und die Menschen ihre Stimme erheben.“ Er sprach zwar über die Ukraine, aber diese Worte beschreiben auch Europa – und wofür unser Europa steht. Also, was wäre wenn, das tatsächlich unsere Aufgabe als Europäerinnen und Europäer ist: Zusammenstehen und das Unmögliche möglich machen?

Mit dem heutigen Preis senden wir eine klare Botschaft: Wir stehen an Präsident Selenskyjs Seite. Wir stehen an der Seite der Menschen in der Ukraine. Wir stehen an ihrer Seite, bis wir gemeinsam das Unmögliche möglich gemacht haben.

Slava Ukraini!

Es lebe Europa!

Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
14. Mai 2023
Autor
Vertretung in Luxembourg