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Vertretung in Luxemburg
Rede15. Februar 2023Vertretung in LuxembourgLesedauer: 6 Min

Rede zum ersten Jahrestag der russischen Invasion und des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine

Rede von Präsidentin von der Leyen bei der Plenartagung des Europäischen Parlaments

"Es gilt das gesprochene Wort!"

Danke, Frau Präsidentin, liebe Roberta,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

vor fast einem Jahr, in der Nacht zum 24. Februar, hat Russland die Ukraine überfallen. Der Krieg kehrte nach Europa zurück. In dieser Nacht waren wir mit unseren Gedanken und Gebeten bei unseren Freundinnen und Freunden in der Ukraine. Wir verfolgten die Nachrichten aus dem Donbass und Kiew aufs Äußerste angespannt. Würden die Ukrainerinnen und Ukrainer den Angriffen der russischen Invasoren standhalten können? Heute kennen wir die Antwort: Ja, sie konnten standhalten. Und ein Jahr später vereitelt eine unbeugsame Ukraine weiter Putins perfide Pläne. Ein Jahr ist vergangen, und Russland hat sich selbst komplett von Europa, mit dem es seine wichtigsten Wirtschaftsbeziehungen unterhielt, entfremdet. Auf der Weltbühne steht das Land isoliert da. Ein Jahr ist vergangen, und dieses Parlament hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als den Helden empfangen, der er wahrlich ist. Nun, ein Jahr später, ist Putin aus seinen Herrschaftsfantasien jäh erwacht und hat eine düstere Realität vor Augen – während die Träume der Ukraine mehr Kraft haben als je zuvor. Und diese  Träume werden Bestand haben.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

was für einen Unterschied ein Jahr der Einheit und Entschlossenheit machen kann! In den frühen Morgenstunden des 24. Februar, als russische Panzer auf ukrainisches Gebiet vordrangen, hielt ein ganzer Kontinent den Atem an. Manche behaupteten, die Ukraine werde schon nach Tagen kapitulieren. Aber dem war nicht so – die legendäre Tapferkeit des ukrainischen Volkes versetzte die Welt in Staunen. Der erbitterte Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer vor Kiew. Die Zivilisten, die russische Panzer im Süden des Landes stoppten. Die Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte in Charkiw und Cherson. Niemals werden wir die großen Opfer und den Mut des ukrainischen Volkes aufwiegen können. Doch wir können fest an seiner Seite stehen. Und das haben wir getan. Ein ganzer Kontinent ist in Bewegung gekommen. Von den Freiwilligen am Bahnhof in Warschau, die Menschen auf der Flucht vor Putins Bomben empfangen haben, bis hin zu den Bürgerinnen und Bürgern, sowie den Unternehmen, die jetzt Energie sparen. Gemeinsam mit Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, haben wir drei Ziele fest im Blick.

Erstens werden wir den Widerstand der Ukraine gegen den Eindringling unverbrüchlich unterstützen. Zweitens wollen wir die russische Kriegsmaschinerie weiter unterminieren. Und drittens bauen wir gemeinsam die europäische Zukunft der Ukraine auf. Diese drei Handlungsstränge haben uns durch das vergangene Jahr geleitet, und sie werden dies auch in den kommenden Monaten tun.

Ich beginne mit unserer ungebrochenen Unterstützung der ukrainischen Widerstandskraft. Seit Kriegsbeginn beläuft sich die wirtschaftliche, humanitäre und militärische EU-Unterstützung für die Ukraine auf 67 Mrd. EUR. Sie reicht von Budgethilfen zur raschen Erholung über Energie, militärische Ausrüstung und humanitäre Hilfe bis hin zur Flüchtlingshilfe. All das ist ein konkreter Beitrag zur ukrainischen Kriegsführung. Putin wollte, dass die Ukraine in sich zusammenfällt. Wir haben der Ukraine geholfen, auch in den düstersten Stunden weiter zu funktionieren. Europa hat dem ukrainischen Widerstand neue Kraft verliehen. Und das werden wir auch weiterhin tun. Wir werden dafür sorgen, dass die finanzielle Unterstützung im Laufe des Jahres 2023 konstant bleibt. Die erste Tranche dieses 18 Mrd. EUR schweren Pakets ist bereits in der Ukraine angekommen. Unsere Unterstützung wird weiterhin Monat für Monat fest einplanbar sein. Das hat Europa zugesagt. Und wir haben unser Versprechen gehalten.

Europa unterstützt auch ukrainische Unternehmen und Arbeitnehmer/innen, die trotz des Krieges noch im Beruf stehen. Hierzu setzen wir die volle Stärke unseres Binnenmarktes ein. Wir haben unsere Volkswirtschaften miteinander verflochten, die Menschen einander nähergebracht, Städtepartnerschaften gegründet und unsere Stromnetze aufeinander abgestimmt. Über unsere Solidaritätskorridore kann die Ukraine ihre Waren weltweit exportieren. Das bedeutete für ukrainische Unternehmen in diesen Kriegszeiten Einnahmen im Wert von 20 Mrd. EUR. Und wir können noch mehr tun.

Bei unserem Besuch in Kiew haben wir uns auf einen Zeitplan für einen noch konsequenteren Zugang der Ukraine zu unserem Binnenmarkt geeinigt. Putin wollte den europäischen Traum der Ukraine zerstören. Stattdessen nähert sich die Ukraine der Europäischen Union momentan schneller und überzeugter an als je zuvor.

Gleichzeitig schwächen wir Russlands Fähigkeit, seine Kriegsmaschinerie aufrechtzuerhalten. Das ist mein zweiter Punkt. Unsere neun Sanktionspakete haben die russische Wirtschaft empfindlich getroffen. Um den Druck aufrechtzuerhalten, schlagen wir ein zehntes Maßnahmenpaket vor. Mit neuen Handelsverboten und neuen Kontrollen für Technologie-Exporte Richtung Russland. Dieses Paket hat einen Umfang von insgesamt 11 Mrd. EUR. Konkret schlagen wir Beschränkungen für Dutzende elektronischer Bauteile vor, die in russischen Waffensystemen wie Drohnen, Flugkörpern und Hubschraubern verwendet werden. Russland setzt aber auch Hunderte von Drohnen iranischer Bauart in der Ukraine ein — auch gegen die Zivilbevölkerung. Das ist wirklich grauenhaft! Deshalb schlagen wir erstmals vor, auch iranische Unternehmen ins Visier zu nehmen, auch solche mit Nähe zur Revolutionsgarde. Es ist unsere Pflicht, sie zu sanktionieren. Und den Iran mit der Frage der Lieferung von Drohnen und der Weitergabe von Know-how zur Herstellung von Drohnen in Russland zu konfrontieren.

Putin ging davon aus, dass unsere Unterstützung für die Ukraine nicht von Dauer sein würde. Er dachte, dass es ein Leichtes wäre, Europa zu erpressen – mit unserer Abhängigkeit von russischem Öl und Gas. Aber auch da lag er falsch. Heute, ein Jahr nach Kriegsbeginn, hat er den von ihm entfachten Energiekrieg schon verloren. Wir haben uns neu aufgestellt mit der Hilfe von verlässlichen Partnern. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Russlands Einnahmen aus dem Verkauf von Gas nach Europa sind um zwei Drittel geschrumpft. Durch die Ölpreisbremse verliert Russland jeden Tag Erlöse in Höhe von 160 Millionen Euro. Die Gaspreise in Europa sind heute niedriger als vor Russlands Überfall auf die Ukraine. Europa hingegen investiert inzwischen in saubere Energien und Energie-Unabhängigkeit wie nie zuvor. Wir stellen beim Ausbau der erneuerbaren Energien einen Rekord nach dem nächsten auf. Wind und Sonne haben letztes Jahr erstmals mehr Strom geliefert als Gas. Wir haben mit europäischer Geschlossenheit und einer klugen Energiepolitik dem russischen Druck widerstanden und uns von der Abhängigkeit befreit. Unserer Wirtschaft geht es heute deutlich besser als vorhergesagt. Wir konnten am Wochenanfang die Wachstumsprognosen nach oben korrigieren. Der Kreml dagegen muss Goldreserven verkaufen, um angesichts fehlender Öleinnahmen seine Löcher zu stopfen. Putins Erpressungsversuch mit Energie ist krachend gescheitert.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

Präsident Selenskyj hat oft mit mir darüber gesprochen, was die Menschen in der Ukraine angesichts des Grauens des Krieges noch antreibt. Trotz der Massaker in Bucha und Irpin. Was ihnen Hoffnung gibt, auch nach der Bombardierung von Mariupol und Dnipro. Es ist der feste Glaube, dass die Zukunft ihres Landes und ihrer Kinder in der Europäischen Union liegt. Und das ist unsere dritte Aufgabe, vor der wir stehen. Wir wollen den Ukrainerinnen und Ukrainern eine Brücke der Hoffnung bauen. Von dem Grauen des Krieges, in dem sie heute leben, in eine bessere Zukunft in unserer Mitte.

Der Wiederaufbau der Ukraine und ihre Fortschritte auf dem Weg hin zu unserer Union gehen Hand in Hand. Sie haben es von Präsident Selenskyj selbst gehört. Ich habe es mit meinem Kommissionskollegium in Kiew gesehen. Und die Kolleginnen und Kollegen in der Kommission bestätigen es jeden Tag aufs Neue: Die Ukraine macht spürbare Fortschritte – während sie sich selbst im Krieg befindet! Die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen, dass der Beitritt zu unserer Union von den Leistungen ihres Landes abhängt. Sie haben bereits Gesetzesreformen verabschiedet, von denen manch einer dachte, dass sie Jahre brauchen würden. Sie machen diese Fortschritte, weil sie mit ganzem Herzen nach Europa streben. Die Ukraine ist eine Nation, die sich nicht nur über ihre Geschichte und ihre Traditionen definiert. Sie ist eine Nation, die sich durch ihre Träume definiert. Und einer dieser Träume heißt Europa.

Verehrte Damen und Herren Abgeordnete,

lassen Sie uns diese Träume würdigen, indem wir uns für die Ukraine starkmachen, so lange es nötig ist. Damit eines Tages Vertreterinnen und Vertreter des ukrainischen Volkes ihren Platz in diesem hohen Haus finden werden.

Es lebe Europa!

Slava Ukraini!

Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
15. Februar 2023
Autor
Vertretung in Luxembourg