Frau Präsidentin des Europäischen Parlaments,
Herr Ratspräsident,
Hoher Vertreter,
Herr Präsident der Ukraine, lieber Wolodymyr,
Herr Sprecher des ukrainischen Parlaments,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
der Krieg ist zurück in Europa. Fast dreißig Jahre nach den Balkankriegen und über ein halbes Jahrhundert nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag und Budapest heulen wieder die Sirenen im Herzen einer europäischen Hauptstadt. Auf der Flucht vor Bomben kampierten Tausende Menschen in U-Bahn-Stationen – hielten einander bei der Hand, schwiegen, versuchten, einander aufzumuntern. Autoschlangen bildeten sich in Richtung ukrainische Westgrenze; vielen ging der Sprit aus, Menschen nahmen ihre Kinder und ihr Gepäck und marschierten kilometerweit Richtung EU. Sie suchten Zuflucht innerhalb unserer Grenzen, weil ihr Land keine Sicherheit mehr bot. Denn in der Ukraine steigt die Zahl der Todesopfer an. Männer, Frauen, Kinder sterben, einmal mehr, weil ein ausländischer Aggressor, Präsident Putin, ihrem Land, der Ukraine, das Existenzrecht abspricht. Und das lassen wir nicht zu — und das werden wir auch niemals hinnehmen.
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
dies ist die Stunde der Wahrheit für Europa. Lassen Sie mich aus dem Leitartikel einer ukrainischen Zeitung, dem Kyiv Independent, zitieren — erschienen kurz vor Beginn der Invasion: „Es geht nicht nur um die Ukraine. Es handelt sich um einen Konflikt zwischen zwei Welten, zweier gegensätzlicher Weltanschauungen.“ Das trifft den Nagel auf den Kopf. Es ist ein Konflikt zwischen Rechtsstaatlichkeit und dem Recht des Stärkeren, zwischen Demokratien und Autokratien, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer Welt der blanken Aggression. Die Art unserer heutigen Reaktion auf das Vorgehen Russlands wird die Zukunft der Weltordnung bestimmen. Das Schicksal der Ukraine steht auf dem Spiel, aber es geht auch um unser eigenes Schicksal. Wir müssen die Kraft zeigen, die in unseren Demokratien steckt; wir müssen die Macht der Menschen zeigen, die ihren unabhängigen Weg frei und demokratisch wählen. Das ist unsere Machtdemonstration.
Heute hat sich eine Union mit fast einer halben Milliarde Menschen für die Ukraine erhoben. EU-weit demonstrieren die Menschen vor den russischen Botschaften. Viele von ihnen nehmen Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor Putins Bomben fliehen, bei sich auf. Und ich möchte insbesondere Polen, Rumänien, der Slowakei und Ungarn dafür danken, dass sie diese Frauen, Männer und Kinder aufgenommen haben. Europa wird sie nicht im Stich lassen — nicht nur in den ersten Tagen, sondern auch in den kommenden Wochen und Monaten nicht. Das muss unser gemeinsames Versprechen sein. Und deswegen schlagen wir vor, den Mechanismus des vorübergehenden Schutzes zu aktivieren, um ihnen einen sicheren Status und Zugang zu Schulen, medizinischer Versorgung und Arbeit zu verschaffen. Sie haben es verdient. Das müssen wir jetzt angehen. Wir wissen, dass dies nur der Anfang ist. Noch mehr Ukrainerinnen und Ukrainer werden unseren Schutz und unsere Solidarität benötigen. Wir sind für sie da — und wir sind auch weiterhin für sie da.
Unsere Union zeigt sich als eine kraftvoll handelnde Gemeinschaft, die mich mit Stolz erfüllt. In kürzester Zeit hat die Europäische Union drei Stufen harter Sanktionen gegen das Finanzsystem Russlands, seine High-Tech-Industrie und seine korrupte Elite verhängt. Das ist das größte Sanktionspaket in der Geschichte unserer Union. Wir ergreifen diese Maßnahmen nicht leichtfertig, aber wir sind der Ansicht, dass wir so handeln mussten. Diese Sanktionen werden die russische Wirtschaft und den Kreml schwer treffen. Wir koppeln wichtige russische Banken vom SWIFT-Netz ab. Wir haben auch die Transaktionen der russischen Zentralbank, dem wichtigsten Finanzinstitut Russlands, unterbunden. So werden Milliarden an Währungsreserven unerreichbar und können Putins und Russlands Krieg nicht finanzieren. Wir müssen dieser Finanzierung seines Krieges ein Ende bereiten.
Zweitens nehmen wir wichtige Sektoren der russischen Wirtschaft ins Visier. Wir machen es Russland unmöglich, seine Ölraffinerien auszubauen, seine Luftflotte instandzuhalten und zu modernisieren und Zugang zu vielen wichtigen Technologien zu erhalten, die es für eine Zukunft in Wohlstand braucht. Wir haben unseren Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt, auch für Privatjets von Oligarchen. Und damit das klar ist: Wir werden auch vor anderen Vermögenswerten – Jachten, teuren Autos oder Luxus-Immobilien – nicht haltmachen. All das werden wir einfrieren.
Drittens legen wir in einem weiteren beispiellosen Schritt die Lizenzen für die Propaganda-Maschinerie des Kremls auf Eis. Die Staatssender Russia Today und Sputnik sowie ihre Tochtergesellschaften werden so nicht länger in der Lage sein, ihre Lügen zu verbreiten, um Putins Krieg zu rechtfertigen und unsere Union zu spalten. Diese beispiellosen Maßnahmen der Europäischen Union und unserer Partner sind eine Reaktion auf eine beispiellose Aggression Russlands.
Jeder dieser Schritte wurde eng mit unseren Partnern und Verbündeten, den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Kanada und Norwegen, aber auch beispielsweise mit Japan, Südkorea und Australien abgestimmt. Mittlerweile haben über 30 Länder, die weit mehr als die Hälfte der Weltwirtschaft ausmachen, Sanktionen und Ausfuhrkontrollen gegen Russland angekündigt. Wenn Putin die Europäische Union spalten, die NATO schwächen und die internationale Gemeinschaft zerschlagen wollte, so hat er genau das Gegenteil erreicht. Wir sind geschlossener denn je und wehren uns gegen diesen Krieg. Wir werden uns nicht unterkriegen lassen und nicht klein beigeben. Wir stehen zusammen und werden das auch künftig tun.
Meine Damen und Herren Abgeordnete,
ich bin mir bewusst, dass diese Sanktionen auch für unsere Wirtschaft mit Kosten verbunden sein werden. Ich weiß das, und ich möchte gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern Europas offen sein. Wir haben jetzt zwei Jahre Pandemie hinter uns. Und uns allen wäre es lieber, wenn wir uns jetzt auf den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufschwung konzentrieren könnten. Aber ich glaube, dass die Menschen in Europa es sehr gut verstehen, dass wir uns jetzt gegen diese Aggression zur Wehr setzen müssen. Ja, der Schutz unserer Freiheit hat seinen Preis. Aber es ist ein Kampf, den wir führen müssen. Und wir sind bereit, die Kosten zu tragen. Denn Freiheit hat kein Preisschild, meine Damen und Herren Abgeordnete. Freiheit hat kein Preisschild.
Was wir heute investieren, wird uns morgen unabhängiger machen. Ich denke dabei zuerst an unsere Energiesicherheit. Wir dürfen uns nicht von einem Lieferanten abhängig machen, der uns unverhohlen bedroht. Deshalb haben wir uns an andere Anbieter weltweit gewandt. Und sie haben reagiert. Norwegen erhöht seine Lieferungen. Im Januar verzeichneten unsere Flüssiggas-Einfuhren einen neuen Höchststand. Wir bauen neue Flüssiggas-Terminals und Verbindungsleitungen. Aber langfristig ist es unsere Umstellung auf erneuerbare Energien und Wasserstoff, die uns wirklich unabhängig machen wird. Wir müssen den grünen Wandel beschleunigen. Denn jede Kilowattstunde Strom, die Europa aus Sonne, Wind, Wasserkraft oder Biomasse gewinnt, wird unsere Abhängigkeit von russischem Erdgas und anderen Energiequellen verringern. Das ist ein strategisches Investment. Und, meine Damen und Herren Abgeordnete, das ist auch deshalb ein strategisches Investment, weil weniger Abhängigkeit von russischem Gas und anderen fossilen Energiequellen darüber hinaus auch weniger Geld für die Kriegskasse des Kremls bedeutet. Das ist nicht von der Hand zu weisen.
Wir sind entschlossen; Europa kann diese Herausforderung bewältigen. Das gilt auch für unsere Verteidigung. Europas Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist in den letzten sechs Tagen weiter vorangekommen als in den zwei Jahrzehnten zuvor. Die meisten Mitgliedstaaten haben zugesagt, militärische Ausrüstung an die Ukraine zu liefern. Deutschland hat angekündigt, dass es das Zwei-Prozent-Ziel der NATO so bald wie möglich erreichen will. Und zum ersten Mal überhaupt setzt die Union den EU-Haushalt zur Beschaffung und Lieferung militärischer Ausrüstung für ein Land ein, das angegriffen wurde. Wir werden die Verteidigung der Ukraine mit 500 Mio. EUR aus der Europäischen Friedensfazilität unterstützen. Wir werden diese Summe nun auch in einem ersten Schritt um mindestens 500 Mio. EUR aus dem EU-Haushalt ergänzen, um die humanitären Folgen dieses tragischen Krieges sowohl im Land als auch für die Flüchtlinge zu bewältigen.
Meine Damen und Herren Abgeordnete,
unsere Union steht an einer Wegscheide. Wir können unsere Sicherheit und den Schutz der Menschen nicht als selbstverständlich betrachten. Wir müssen dafür etwas tun. Wir müssen investieren. Wir müssen unseren gerechten Teil der Verantwortung übernehmen.
Diese Krise verändert Europa. Aber auch Russland hat einen Scheideweg erreicht. Das Handeln des Kremls schadet den langfristigen Interessen Russlands und seiner Bevölkerung erheblich. Immer mehr Russen verstehen dies auch. Sie setzen sich für Frieden und Freiheit ein. Und wie reagiert der Kreml darauf? Indem Tausende von ihnen verhaftet werden. Aber letztlich kann die Sehnsucht nach Frieden und Freiheit nicht erstickt werden. Neben Putins Panzern gibt es noch ein anderes Russland. Und diesem anderen Russland reichen wir die Hand zur Freundschaft. Sie können sich unserer Unterstützung gewiss sein.
Meine Damen und Herren Abgeordnete,
in diesen Tagen steht die unabhängige Ukraine vor ihrer dunkelsten Stunde. Gleichzeitig halt das ukrainische Volk die Fackel der Freiheit stellvertretend für uns alle aufrecht. Die Ukrainer beweisen einen unermesslichen Mut. Sie kämpfen ums nackte Überleben. Sie kämpfen aber auch für universelle Werte und sind bereit, für sie zu sterben. Präsident Selenskyj und das ukrainische Volk sind eine echte Inspiration für uns. Als wir das letzte Mal miteinander sprachen, wiederholte er, dass es der Traum seines Volkes sei, der Union beizutreten. Heute sind die Europäische Union und die Ukraine enger als je zuvor miteinander verbunden. Aber es liegt noch ein langer Weg vor uns. Wir müssen diesem Krieg ein Ende setzen. Und wir sollten über die nächsten Schritte sprechen. Ich bin sicher: Niemand in diesem Plenarsaal kann daran zweifeln, dass ein Volk, das so mutig für unsere europäischen Werte steht, zu unserer europäischen Familie gehört.
Und daher, meine Damen und Herren Abgeordnete, sage ich: Lang lebe Europa. Und lang lebe die freie und unabhängige Ukraine.
My z vamy. Slava Ukraini.
Einzelheiten
- Datum der Veröffentlichung
- 1. März 2022
- Autor
- Vertretung in Luxembourg