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Vertretung in Luxemburg
Presseartikel11. November 2022Vertretung in LuxembourgLesedauer: 5 Min

Herbstprognose 2022: Die EU-Wirtschaft an einem Wendepunkt

Nach einer starken ersten Jahreshälfte ist die EU-Wirtschaft nun in eine viel schwierigere Phase eingetreten.

Press conference by Paolo Gentiloni, European Commissioner, on the Autumn 2022 Economic Forecast

Nach einer starken ersten Jahreshälfte ist die EU-Wirtschaft nun in eine viel schwierigere Phase eingetreten. Die durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ausgelösten Schockwellen wirken weltweit nachfragedämpfend und inflationstreibend. Die EU gehört aufgrund ihrer geografischen Nähe zum Kriegsgebiet und ihrer großen Abhängigkeit von Gasimporten aus Russland zu den am stärksten gefährdeten fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Die Energiekrise schwächt die Kaufkraft der Haushalte und belastet die verarbeitende Industrie. Das Geschäftsklima hat sich deutlich eingetrübt, weshalb trotz vermutlich besser als erwartet ausfallender Wirtschaftsdaten für 2022 der Ausblick für 2023 deutlich weniger Wachstum und eine höhere Inflation erwarten lässt, als es die Kommission noch in ihrer Zwischenprognose vom Sommer angenommen hatte.

Das Wachstum dürfte zum Jahreswechsel deutlich schrumpfen

Das reale BIP-Wachstum in der EU überraschte in der ersten Jahreshälfte 2022 positiv, da die Verbraucher nach der Lockerung der COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen ihre Ausgaben, insbesondere für Dienstleistungen, kräftig wieder aufnahmen. Die Expansion setzte sich im dritten Quartal fort, wenngleich in deutlich abgeschwächter Form.

Angesichts der großen Unsicherheit, des hohen Energiepreisdrucks, der Kaufkrafterosion bei den privaten Haushalten, des schwächeren außenwirtschaftlichen Umfelds und der restriktiveren Finanzierungsbedingungen wird erwartet, dass die EU, der Euroraum und die meisten Mitgliedstaaten im letzten Quartal des Jahres in eine Rezession abgleiten werden. Dennoch dürften die starke Dynamik von 2021 und das kräftige Wachstum in der ersten Jahreshälfte das reale BIP-Wachstum im Jahr 2022 insgesamt auf 3,3 % in der EU (3,2 % im Euroraum) ansteigen lassen - und damit deutlich über die in der Sommerprognose prognostizierten 2,7 %.

Da die Inflation das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte weiter schmälert, dürfte sich der Konjunkturrückgang im ersten Quartal 2023 fortsetzen. Es wird erwartet, dass das Wachstum im Frühjahr nach Europa zurückkehrt, da die Inflation allmählich ihren Griff auf die Wirtschaft lockert. Der starke Gegenwind, der die Nachfrage nach wie vor bremst, dürfte die Wirtschaftstätigkeit weiter dämpfen, sodass das BIP-Wachstum im Jahr 2023 sowohl in der EU als auch in der Eurozone voraussichtlich insgesamt 0,3 % erreichen wird.

Bis 2024 wird das Wirtschaftswachstum voraussichtlich allmählich wieder an Fahrt gewinnen und im Durchschnitt 1,6 % in der EU und 1,5 % im Euroraum betragen.

Höhepunkt der Inflation noch nicht erreicht – allmähliche Abnahme erst für später erwartet

Da die Inflationswerte in den ersten zehn Monaten des Jahres 2022 höher als erwartet ausfielen und der Preisdruck zunahm, dürfte sich der Inflationshöhepunkt auf das Jahresende verlagert haben, was eine Anhebung der jährlichen Inflationsprognose auf 9,3 % für die EU und 8,5 % für den Euroraum zur Folge hat. Es wird erwartet, dass die Inflation im Jahr 2023 zurückgeht, aber mit 7,0 % in der EU und 6,1 % im Euroraum hoch bleibt, bevor sie sich 2024 auf 3,0 % bzw. 2,6 % abschwächt.

I Im Vergleich zur Sommerprognose bedeutet dies eine Aufwärtskorrektur um fast einen Prozentpunkt für 2022 und mehr als zwei Punkte für 2023. Die Revisionen spiegeln vor allem die deutlich höheren Großhandelspreise für Gas und Strom wider, die Druck auf die Endkundenenergiepreise sowie auf die meisten Waren und Dienstleistungen im Warenkorb ausüben.

Stärkster Arbeitsmarkt seit Jahrzehnten bleibt widerstandsfähig

Trotz des schwierigen Umfelds hat sich der Arbeitsmarkt weiterhin gut entwickelt: Beschäftigung und Erwerbsbeteiligung sind so hoch wie nie zuvor und die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Dank des kräftigen Wirtschaftswachstums wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 netto zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, wodurch die Zahl der Erwerbstätigen in der EU auf ein Allzeithoch von 213,4 Millionen stieg. Die Arbeitslosenquote blieb im September mit 6,0 % auf einem Rekordtief.

Es wird erwartet, dass die Arbeitsmärkte mit Verzögerung auf die Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit reagieren, aber widerstandsfähig bleiben werden. Das Beschäftigungswachstum in der EU wird für 2022 mit 1,8 % prognostiziert, bevor es 2023 zum Stillstand kommt und 2024 moderat auf 0,4 % ansteigt.

Die Arbeitslosenquote in der EU wird für 2022 auf 6,2 %, 2023 auf 6,5 % und 2024 auf 6,4 % geschätzt.

Geringes Wachstum, hohe Inflation und Energiehilfen belasten die Defizite

Das starke nominale Wachstum in den ersten drei Quartalen des Jahres und das Auslaufen der pandemiebedingten Unterstützung haben zu einem weiteren Rückgang der öffentlichen Defizite im Jahr 2022 geführt, trotz der neuen Maßnahmen, die ergriffen wurden, um die Auswirkungen des Anstiegs der Energiepreise auf Haushalte und Unternehmen abzumildern. Nach einem Rückgang auf 4,6 % des BIP im Jahr 2021 (5,1 % im Euroraum) wird das Defizit in der EU in diesem Jahr voraussichtlich weiter auf 3,4 % des BIP (3,5 % im Euroraum) sinken

Im Jahr 2023 dürfte das gesamtstaatliche Defizit jedoch wieder leicht ansteigen (auf 3,6 % in der EU und 3,7 % im Euroraum), da sich die Wirtschaftstätigkeit abschwächt, die Zinsausgaben steigen und die Regierungen ihre Maßnahmen zur Abfederung der Auswirkungen der hohen Energiepreise verlängern oder neue einführen. Deren geplante Rücknahme im Laufe des Jahres 2023 und die Wiederbelebung des Wachstums dürften den Druck auf die öffentlichen Haushalte danach verringern. Infolgedessen wird das Defizit 2024 voraussichtlich 3,2 % des BIP in der EU und 3,3 % im Euro-Währungsgebiet betragen.

Im Prognosezeitraum wird in der EU ein weiterer Rückgang der Schuldenquote von 89,4 % des BIP im Jahr 2021 auf 84,1 % des BIP im Jahr 2024 (von 97,1 % auf 91,4 % im Euro-Währungsgebiet) projiziert.

Außergewöhnliches Maß an Unsicherheit

Die wirtschaftlichen Aussichten sind nach wie vor mit einem außergewöhnlichen Maß an Unsicherheit behaftet, da Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine anhält und das Potenzial für weitere wirtschaftliche Störungen noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Die größte Bedrohung geht von ungünstigen Entwicklungen auf dem Gasmarkt und möglichen weiteren Engpässen, insbesondere im Winter 2023-24, aus. Neben der Gasversorgung bleibt die EU direkt und indirekt weiteren, durch geopolitische Spannungen ausgelösten Schocks auf anderen Rohstoffmärkten ausgesetzt.

Auch eine länger anhaltende Inflation und mögliche ungeordnete Anpassungen der globalen Finanzmärkte an das neue Hochzinsumfeld bleiben wichtige Risikofaktoren. Beide werden durch die mögliche Inkonsistenz zwischen finanz- und geldpolitischen Zielen noch verstärkt.

Hintergrund

Diese Prognose basiert auf einer Reihe von technischen Annahmen zu Wechselkursen, Zinssätzen und Rohstoffpreisen mit Stichtag 31. Oktober. Für alle anderen eingehenden Daten, einschließlich der Annahmen über die Regierungspolitik, werden in dieser Prognose Informationen bis einschließlich 27. Oktober berücksichtigt. Sofern keine neuen Maßnahmen angekündigt und hinreichend detailliert spezifiziert werden, gehen die Projektionen von einer unveränderten Politik aus.

Die Europäische Kommission veröffentlicht jedes Jahr zwei umfassende Prognosen (Frühjahr und Herbst) und zwei Zwischenprognosen (Winter und Sommer). Die Zwischenprognosen umfassen das jährliche und vierteljährliche BIP und die Inflation für das laufende und das Folgejahr für alle Mitgliedstaaten sowie die Aggregate für die EU und die Eurozone.

Die Winterprognose 2023 der Europäischen Kommission wird die BIP- und Inflationsprognosen aktualisieren und voraussichtlich im Februar 2023 erscheinen.

Weitere Informationen:

Vollständige Prognose im Wortlaut: Herbstprognose 2022

Vizepräsident Dombrovskis auf Twitter: @VDombrovskis

Kommissionsmitglied Gentiloni auf Twitter: @PaoloGentiloni

GD ECFIN auf Twitter: @ecfin

Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
11. November 2022
Autor
Vertretung in Luxembourg