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Vertretung in Luxemburg
Presseartikel9. Mai 2022Vertretung in LuxembourgLesedauer: 9 Min

Rede von Präsidentin von der Leyen auf der Abschlussveranstaltung der Konferenz zur Zukunft Europas

Participation of Ursula von der Leyen, President of the European Commission, in the closing ceremony of the conference on the future of Europe

„Wir müssen uns ein vereintes Europa so vorstellen und planen, als ob es jeden Tag möglich wäre, ein solches unmittelbar zu erschaffen, und dabei die Trägheit der ewigen Zauderer überwinden. Wenn das Mögliche wirklich möglich ist, können wir es auch heute in Angriff nehmen.“

 

Frau Präsidentin Metsola, dear Roberta,

Herr Präsident Macron, cher Emmanuel,

Herr Premierminister Costa, querido António,

sehr geehrte Frau Dubravka Šuica,

sehr geehrter Herr Guy Verhofstadt,

cher ministre, Clément Beaune,

Exzellenzen,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

aber vor allem – meine lieben europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger,

 

an diesem ganz besonderen Europatag gibt es keine passenderen Worte als die von Ursula Hirschmann. Für diejenigen, denen dieser Name nichts sagt: Ursula Hirschmann war Architektin und Pionierin des heutigen freien und geeinten Europas. Sie hat sich dem Aufstieg des Nationalsozialismus im Berlin der frühen 1930er Jahre widersetzt – sie gestaltete die Zukunft Europas auf der Insel Ventotene in den 1940er Jahren – sie war Vorreiterin für die Rechte der Frauen in ganz Europa.


Der Mut ihres Handelns und ihrer Überzeugungen machten Europa zu dem, was es heute ist. Ich beginne mit diesem Bild, denn für Europa hat die Erinnerung an unsere Vergangenheit stets unsere Zukunft geprägt. Und dies ist umso wichtiger in einer Zeit, in der das Unvorstellbare wieder auf unseren Kontinent zurückgekehrt ist. Russlands mutwillige Versuche, die Landkarten neu zu zeichnen und selbst die tragischsten Kapitel unserer Geschichte neu zu schreiben, haben uns dazu gemahnt, Vergangenheit und Zukunft nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist gefährlich, zu denken, dass wir in einer ständigen Gegenwart leben, und dass alles immer beim Alten bleibt. Dass es keinen Handlungsspielraum gibt. Und schlimmer noch: Dass alles beim Alten bleibt, wenn nur wir nichts tun. Das ist ein gewaltiger Irrtum! Stillstand ist Rückschritt.

 

Diese Konferenz hat uns jedoch gezeigt, dass die Europäerinnen und Europäer entschlossen sind, diesen Fehler nicht zu machen. Sie haben uns gesagt, dass Sie eine bessere Zukunft aufbauen wollen, indem Sie den nachhaltigsten Versprechen der Vergangenheit gerecht werden. Dem Versprechen von Frieden und Wohlstand, Fairness und Fortschritt. Der Verheißung eines sozialen und nachhaltigen Europas, eines fürsorglichen und entschlossenen Europas. Genau wie bei Ursula Hirschmann und all denjenigen, die nicht mehr unter uns sind.

 

Meine Damen und Herren,

diese Konferenz hat deutliche Worte gesprochen. Und ich freue mich, heute so viele von Ihnen hier sehen zu können. Mit Ihren 49 Vorschlägen und über 300 Maßnahmen haben Sie eine Vision für ein Europa vorgelegt, das in zentralen Bereichen Ergebnisse hervorbringt und das unseren Alltag verbessert. Und das ist nicht auf einen bestimmten Ort beschränkt ist, sondern dort zur Seite steht, wo es gebraucht wird. Für die täglichen Prioritäten wie die Luft, die wir atmen, und das Essen, das wir zu uns nehmen. Für die Bildung, die wir unseren Kindern geben, und die Häuser, in denen wir mit ihnen wohnen.

 

Es ist die Vision eines Europas, das seine Stärken, Fähigkeiten und Vielfalt bündeln kann, um die größten Herausforderungen – vom Klimawandel oder Naturverlust bis hin zu Pandemien oder Sicherheitsfragen für unsere Region – zu bewältigen. Ein Europa, das seine Werte und die Rechtsstaatlichkeit konsequenter wahren kann. Ein Europa, das sich in zentralen Bereichen – von Energie und Lebensmitteln, Werkstoffen und Arzneimitteln bis hin zu Computerchips und umweltfreundlichen Technologien – selbst versorgen kann. Ein Europa, das einen einzigartigen Sozialschutz bietet und allen zugutekommt, wenn dieser zweigleisige Wandel gelingt.

 

Meine Damen und Herren,

ich möchte mich an jede einzelne und jeden einzelnen von Ihnen wenden, der bzw. die an dieser Konferenz teilgenommen hat: Ihre Botschaft ist angekommen. Und jetzt ist es an der Zeit, konkrete Ergebnisse zu erzielen. Das habe ich versprochen, als ich vor zweieinhalb Jahren bei der Wahl in diesem Haus kandidierte. Und gemeinsam haben wir bewiesen, dass wir das mit den bereits bestehenden Befugnissen auch inmitten einer Pandemie oder eines Krieges schaffen. Die Beschaffung von Milliarden von Impfstoffen für Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa und in unserer Nachbarschaft oder die Ankurbelung der Wirtschaft nach der Pandemie im Rahmen von NextGenerationEU. Sei es, einen ehrgeizigen und rechtsverbindlichen Weg zur Klimaneutralität zu schaffen, die Spielregeln in der digitalen Welt festzulegen oder kleine Unternehmen dabei zu unterstützen, ihre Beschäftigten während der Pandemie in Lohn und Brot zu halten.

 

Wirklich nichts davon war in den Verträgen ausdrücklich vorgesehen. Aber es war möglich. Und wir haben es gemeinsam in Angriff genommen – weil die Menschen in Europa das von uns erwartet haben. Bereits im nächsten Monat werden wir darlegen, was erforderlich ist, um Ihre Vorschläge Wirklichkeit werden zu lassen und bestmöglich zu reagieren. In einigen Bereichen geben Ihre Vorschläge uns einen Anstoß, die bereits laufenden Arbeiten zu beschleunigen – beispielsweise zum europäischen Grünen Deal oder zur gerechteren Gestaltung der Gesellschaft. Das bedeutet, dass die Verhandlungen über das Paket „Fit für 55“ beschleunigt werden müssen, damit wir erneuerbare Energien fördern, Energie sparen und uns schließlich von fossilen Brennstoffen verabschieden können. So muss es sein. Und es bedeutet, dass unser Vorschlag zu Mindestlöhnen rechtlich verankert wird, damit Arbeit sich für alle lohnt.

 

In anderen Bereichen haben wir die von Ihnen geforderten Arbeiten bereits aufgenommen: Die Arbeitsgruppe Gesundheit schlug beispielsweise die Schaffung eines europäischen Raums für Gesundheitsdaten vor, der den grenzüberschreitenden Austausch von Gesundheitsdaten erleichtern würde. Meine Kommission hat in der vergangenen Woche einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt. Und in den nächsten Wochen und Monaten werden wir andere Vorschläge vorlegen, um die Sie uns ersucht haben. Zum Beispiel Vorschläge zur Wiederherstellung der Natur, zur Verringerung von Verpackungsabfällen oder zum Verbot von Produkten auf unserem europäischen Markt, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden. Bei all diesen anstehenden Maßnahmen werden wir Ihre Vorschläge eingehend prüfen, damit wir Ihren Wünschen am besten gerecht werden können.

 

Vieles können wir bereits unverzüglich in Angriff nehmen. Und das gilt auch für die Empfehlungen, bei denen wir neue Maßnahmen ergreifen müssen. Um ein rasches Follow-up zu gewährleisten, werde ich bereits in meiner Rede zur Lage der Union im September die ersten neuen Vorschläge als Reaktion auf Ihren Bericht ankündigen. Aber, liebe europäische Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir müssen noch weitere Schritte unternehmen, die über das hinausgehen. So habe ich z. B. immer argumentiert, dass Einstimmigkeit in einigen Schlüsselbereichen einfach nicht mehr sinnvoll ist, wenn wir schneller vorankommen wollen. Oder dass Europa eine größere Rolle spielen sollte, z. B. in den Bereichen Gesundheit oder Verteidigung – nach den Erfahrungen der letzten beiden Jahre. Und wir müssen die Art und Weise verbessern, wie unsere Demokratie tagein und tagaus funktioniert. Ich möchte klarstellen, dass ich immer auf der Seite derjenigen stehen werde, die die Europäische Union reformieren wollen, damit sie besser funktioniert.

 

Sie haben uns gesagt, wohin sich Europa bewegen soll. Und es ist jetzt an uns, den direkten Weg dorthin einzuschlagen, entweder indem wir alles unternehmen, was nach den Verträgen möglich ist, oder eben, indem wir die Verträge dort ändern, wo es nötig ist.

 

Meine Damen und Herren, liebe europäische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Demokratie ist nicht aus der Mode gekommen, aber sie muss sich selbst auf den neuesten Stand bringen, um das Leben der Menschen weiter zu verbessern. Dies sind die Worte von David Sassoli – einem großen Europäer, der hier vor einem Jahr stand, zusammen mit Dir, lieber António Costa, um diese Konferenz zu eröffnen. Wir alle vermissen ihn zutiefst, und ich habe heute einen besonderen Platz für ihn in meinem Herzen.

 

Und es erfüllt mich mit Stolz, wenn ich sehe, dass Bürgerinnen und Bürger aus allen Ecken Europas seine Vision einer lebendigen und modernen europäischen Demokratie mit Leben füllen. Wir haben das in nationalen Bürgerforen gesehen, wie sie etwa in ganz Frankreich abgehalten wurden. Und wir haben es in den europäischen Bürgerforen gesehen – von Dublin bis Natolin, von Florenz bis Maastricht. Auf diesen Foren kamen Männer und Frauen zusammen, die sich nie zuvor für Europa engagiert hatten. Unterschiedliche Geschichten, unterschiedliche Sprachen und unterschiedliche Identitäten – aber eine gemeinsame Zukunft, die es zu gestalten gilt.

 

Sie haben den Nachweis geliefert, dass diese Form der Demokratie funktioniert. Und ich bin der Ansicht, dass wir dem mehr Raum geben sollten; es sollte Teil der Art und Weise werden, wie wir Politik gestalten. Deshalb werde ich vorschlagen, dass wir den Bürgerforen in Zukunft Zeit und Ressourcen geben werden, damit sie Empfehlungen abgeben können, ehe wir wesentliche Legislativvorschläge vorlegen. Denn ich bin überzeugt, dass Demokratie nicht mit Wahlen, Konferenzen oder Übereinkommen endet. Täglich muss an ihr gearbeitet werden, täglich muss sie gefördert und verbessert werden. Wir konnten das in einschlägigen Veranstaltungen in ganz Europa sehen: Zum Beispiel bei den Diskussionen über biologische Vielfalt in Varna, über geschlechtsspezifische Gewalt in Lissabon oder Demokratie und Subsidiarität in Budapest. Und wir haben es am Beispiel von Linda gesehen, einer jungen Mutter, die vorhin in diesem Saal über die Zukunft gesprochen hat, mit ihrem Baby auf dem Arm, das während der Konferenz geboren wurde.

 

Meine Damen und Herren,

das ist das Bild, das wir am 9. Mai feiern sollten. Ein Bild, das viel mächtiger ist als jede Militärparade, die auf den Straßen Moskaus marschiert, während wir sprechen. Und ich möchte, dass uns dieses Bild daran erinnert, dass wir das, was Europa ist und was es bedeutet, niemals für selbstverständlich nehmen dürfen. Europa ist ein Traum. Ein Traum, den es immer gab. Ein Traum, der aus einer Tragödie hervorgegangen ist.

 

Aber heute scheint dieser Traum nicht nur hier an diesem historischen Ort hell und klar. Am hellsten scheint er in den Herzen und Gedanken der Menschen in Kiew und Charkiw, in Odessa und Mariupol. Am hellsten scheint er im Mut jener Familien und jungen Menschen, die in U-Bahnen und Kellern ausharren. Er scheint am hellsten aus dem Mut derer, die die sinnlosen Gräueltaten in Butscha und in Irpin und in allen vom Krieg heimgesuchten ukrainischen Dörfern und Städten beklagen. Und dieser Traum scheint hell in den Augen all jener jungen Ukrainerinnen und Ukrainer, die einen Zufluchtsort in Europa gefunden haben – ein Zuhause fern der Heimat. Diese Menschen, meine europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger – jung und alt –, sind bereit, für ihre Zukunft und für diesen Traum von Europa zu kämpfen und zu sterben. Für diesen Traum, den es immer gegeben hat. Für diesen Traum, den es immer geben muss.

 

Ich möchte mit einer Botschaft enden. Heute Morgen hatte ich eine Videokonferenz mit Präsident Selenskyj. Und er wollte mir virtuell seine Antworten auf den Fragebogen der Kommission für den Beitrittsprozess übermitteln, für den er sich beworben hat. Es sind mehr als 5000 Seiten, die er mir übergeben hat. Und deshalb möchte ich eine besondere Botschaft an unsere ukrainischen Freunde und Familie richten. Die Zukunft Europas ist auch Ihre Zukunft. Die Zukunft unserer Demokratie ist auch die Zukunft Ihrer Demokratie. Vor 72 Jahren machte der Krieg in Europa Platz für etwas Anderes, etwas Neues. Zunächst eine Gemeinschaft, heute eine Union. Das war der Tag, an dem die Zukunft begann. Es ist eine Zukunft, die wir seitdem als Architekten und Baumeister Europas schreiben. Und die nächste Seite, meine lieben ukrainischen Freunde und Freundinnen, wird nun von Ihnen geschrieben. Von uns. Von uns allen gemeinsam.

Slava Ukrainje, lang lebe Europa!

Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
9. Mai 2022
Autor
Vertretung in Luxembourg