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Vertretung in Luxemburg
Presseartikel24. Mai 2022Vertretung in LuxembourgLesedauer: 10 Min

Weltwirtschaftsforum

Participation of Ursula von der Leyen, President of the European Commission, in the World Economic Forum

"Es gilt das gesprochene Wort!"

Vielen Dank Klaus,

sehr geehrte Damen und Herren,

es ist schwer zu glauben, dass wir heute in Davos über Krieg sprechen. Der Geist von Davos ist das Gegenteil von Krieg. Hier geht es darum, Verbindungen zu schmieden und gemeinsam Lösungen für unsere großen Herausforderungen zu finden. In den letzten Jahren haben wir uns damit beschäftigt, wie wir auf intelligente und nachhaltige Weise den Klimawandel bekämpfen können und wie wir die Globalisierung so gestalten können, dass alle davon profitieren – wie wir das Gute an der Digitalisierung zur Geltung kommen lassen und ihre Risiken für unsere Demokratien entschärfen können. In Davos geht es darum, gemeinsam eine bessere Zukunft zu entwerfen. Darüber sollten wir hier heute eigentlich sprechen. Stattdessen müssen wir uns mit den Folgen des Kriegs befassen, den Putin mutwillig begonnen hat.

Das Drehbuch für Russlands Angriff auf die Ukraine stammt direkt aus einem anderen Jahrhundert. Millionen von Menschen werden nicht als Menschen gesehen, sondern als gesichtslose Bevölkerungsgruppen, die bewegt oder kontrolliert oder als Puffer zwischen Streitkräften eingeplant werden können. Es ist der Versuch, die Hoffnungen einer ganzen Nation mit Panzern zu überrollen. Hier geht es nicht allein um das Überleben der Ukraine. Es ist auch nicht nur eine Frage der Sicherheit Europas. Unsere gesamte internationale Ordnung steht auf dem Spiel. Und deshalb ist die gesamte Weltgemeinschaft gefragt, wenn es darum geht, Russlands Angriff abzuwehren.

Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen. Und Putins Aggression muss sich als strategisches Versagen herausstellen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um der Ukraine zu helfen, sich zu behaupten und die Zukunft wieder in ihre eigene Hand zu nehmen. Zum ersten Mal in unserer Geschichte leistet die Europäische Union einem Land, das angegriffen wird, militärische Hilfe. Wir mobilisieren unsere ganze wirtschaftliche Macht. Unsere Sanktionen und der freiwillige Rückzug der Unternehmen trocknen die russische Wirtschaft und die Kriegsmaschinerie des Kreml aus. Unsere Mitgliedstaaten kümmern sich um sechs Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine und acht Millionen Binnenvertriebene. Parallel dazu benötigt die Ukraine nun direkte Budgethilfe, damit die Wirtschaft weiter funktionieren kann. Renten, Gehälter, grundlegende Dienste. Wir haben mehr als 10 Milliarden EUR an Makrofinanzhilfen vorgeschlagen – das größte jemals von der Europäischen Union für ein Drittland zusammengestellte derartige Paket. Andere Länder – allen voran die Vereinigten Staaten – tun ebenfalls, was ihnen möglich ist. Es handelt sich um wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen, die in der jüngeren Geschichte beispiellos sind.

Das kurzfristig, doch es gibt noch mehr zu tun. Mit derselben Entschlossenheit werden wir – Hand in Hand – der Ukraine helfen, sich aus den Trümmern zu erheben. Das ist die Idee hinter der Plattform für den Wiederaufbau, die ich Präsident Selenskyj vorgeschlagen habe. Gestern lobte er in seiner Rede hier in Davos die beispiellose Einheit der demokratischen Welt – die Einsicht, dass man für Freiheit kämpfen muss. Der Wiederaufbau der Ukraine erfordert ebenfalls unsere beispiellose Einheit. Man kann es nicht besser als Präsident Selenskyj sagen: Die vor uns liegende Arbeit ist kolossal. Aber gemeinsam können und werden wir die Herausforderung meistern. Daher haben wir eine Plattform für den Wiederaufbau vorgeschlagen, die von der Ukraine und der Europäischen Kommission geleitet werden soll, da wir Reformen und Investitionen verbinden werden. Die Plattform ist offen für weltweite Beiträge – von jedem Land, dem an der Zukunft der Ukraine gelegen ist, von internationalen Finanzinstitutionen und vom Privatsektor. Und ich habe mich gefreut, von der Konferenz in Lugano zu hören. Wir brauchen alle mit an Bord. Børge Brende sprach von einem Marshallplan für die Ukraine. Wir sollten dafür jeden Stein umdrehen – wenn möglich, auch russische Vermögenswerte.

Aber dabei geht es nicht nur darum, die Schäden des zerstörerischen Furors Putins zu beheben. Es geht auch darum, die Zukunft so zu gestalten, wie es die Menschen in der Ukraine für sich selbst gewählt haben. Seit Jahren arbeiten die Menschen in der Ukraine für den Wandel. Das war der Grund, warum sie Wolodymyr Selenskyj gewählt haben. Der Wiederaufbau des Landes sollte umfangreiche Investitionen mit ehrgeizigen Reformen verbinden, um die Verwaltung der Ukraine zu modernisieren, um die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz fest zu verankern, um die Korruption zu bekämpfen, um eine faire, nachhaltige und wettbewerbsfähige Wirtschaft aufzubauen und um somit die Ukraine auf ihrem europäischen Weg entschieden zu unterstützen. Die Ukraine ist ein Teil unserer europäischen Familie. Das ukrainische Volk hat sich gegen brutale Gewalt erhobenen Hauptes zur Wehr gesetzt. Es ist für seine eigene Freiheit und für die Menschheit eingestanden. Wir stehen ihm bei. Das ist ein entscheidender Moment für die Demokratien der Welt.

Meine Damen und Herren,

des Weiteren löst dieser Konflikt weltweit Schockwellen aus und stört die bereits durch die Pandemie strapazierten Lieferketten noch weiter. Er bringt für Unternehmen und Haushalte neue Belastungen und für Investoren auf der ganzen Welt eine enorme Unklarheit und Unsicherheit mit sich. Immer mehr Länder und Unternehmen, die bereits von zwei Jahren COVID-19 und all den damit zusammenhängenden Lieferkettenproblemen gezeichnet sind, müssen nun mit steigenden Energiepreisen als direkte Folge von Putins unentschuldbarem Krieg fertig werden. Russland hat versucht, Druck auf uns auszuüben – beispielsweise indem es Polen, Bulgarien und Finnland von den Gaslieferungen abgeschnitten hat. Doch dieser Krieg und dieses Verhalten haben die Entschlossenheit Europas nur gestärkt, uns schnell von den fossilen Brennstoffen aus Russland abzukoppeln.

Schon wegen des Klimawandels haben wir hier keine Zeit zu verlieren. Aber jetzt liegen auch die geopolitischen Gründe klar auf der Hand. Wir müssen unsere Versorgung diversifizieren und dabei fossile Brennstoffe ersetzen. Wir haben bereits den Weg zur Klimaneutralität eingeschlagen. Jetzt müssen wir unsere Energiewende beschleunigen. Glücklicherweise verfügen wir bereits über die dafür erforderlichen Mittel. Der europäische Grüne Deal ist bereits ambitioniert. Doch jetzt steigern wir unseren Ehrgeiz noch einmal deutlich. Letzte Woche stellte die Europäische Kommission REPowerEU vor. Es handelt sich um einen mit 300 Milliarden EUR ausgestatteten Plan zur schrittweisen Abkopplung von fossilen Brennstoffen aus Russland und zur Beschleunigung des ökologischen Wandels. Heute stammt fast ein Viertel unserer Energie in Europa aus erneuerbaren Quellen. Über REPowerEU werden wir diesen Anteil bis 2030 auf 45% fast verdoppeln.

Dies ist nur möglich, wenn wir auch eine neue Stufe der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit erreichen. Ein gutes Beispiel dafür ist, was derzeit in der Nordsee passiert. Letzte Woche haben sich vier europäische Länder zusammengeschlossen, um die Offshore-Windenergie zu nutzen. Sie wollen ihre Offshore-Windkraftkapazitäten bis 2030 vervierfachen. Das bedeutet: Windparks in der Nordsee werden den jährlichen Energieverbrauch von mehr als 50 Millionen Haushalten decken – etwa ein Viertel aller Haushalte in Europa. Das ist der richtige Weg. Mit erneuerbarer Energie gelangen wir zur CO2-Neutralität. Es ist gut für das Klima. Und es ist gut für unsere Unabhängigkeit und Energieversorgungssicherheit.

Das Gleiche gilt für die Diversifizierung unserer Gasversorgung, eine weitere Säule von REPowerEU. Derzeit schließt Europa neue Abkommen mit verlässlichen und vertrauenswürdigen Lieferanten auf der ganzen Welt. Im März habe ich mit Präsident Biden vereinbart, die Flüssiggaslieferungen aus den USA nach Europa erheblich zu steigern. Auch aus dem Nahen Osten und Nordafrika wird mehr Flüssiggas und Pipeline-Gas kommen. Neue Flüssiggasterminals in Griechenland, Zypern und Polen und neue Verbindungsleitungen werden bald in Betrieb genommen. Und die dazugehörige Infrastruktur wird den Kern unserer künftigen Wasserstoffkorridore bilden – Wasserstoff ist die neue Zukunft unseres europäischen Energienetzes.

Aber wir müssen noch weiter vorausdenken. Die Volkswirtschaft der Zukunft wird nicht mehr auf Kohle und Öl angewiesen sein, aber auf Lithium für Batterien, auf Siliziummetall für Chips und auf Dauermagnete mit seltenen Erden für Elektrofahrzeuge und Windkraftanlagen. Und das ist sicher: Der ökologische und der digitale Wandel werden unseren Bedarf an diesen Materialien massiv erhöhen. Allerdings ist der Zugang zu ihnen keineswegs selbstverständlich. Bei vielen sind wir auf eine Handvoll Herkunftsländer und Erzeuger angewiesen. Wir müssen also verhindern, dass wir in dieselbe Falle geraten wie bei Öl und Gas. Wir sollten alte Abhängigkeiten nicht durch neue ersetzen. Deshalb arbeiten wir daran, die Belastbarkeit unserer Lieferketten sicherzustellen. Und auch hier stehen starke internationale Partnerschaften im Zentrum der Lösung. Die Kommission hat bereits strategische Rohstoffpartnerschaften mit Ländern wie Kanada geschlossen. Und weitere verlässliche Partnerschaften werden folgen. Gemeinsam können wir ausgewogenere wechselseitige Verflechtungen schaffen und Lieferketten aufbauen, denen wir wirklich vertrauen können.

Meine Damen und Herren,

wir erleben derzeit, wie Russland seine Energieversorgung als Waffe einsetzt. Das hat globale Auswirkungen. Bei der Ernährungssicherheit zeichnet sich dasselbe Muster ab. Die Ukraine ist eines der fruchtbarsten Länder der Welt. Selbst ihre Flagge ist Symbol für die Landschaft des Landes: ein gelbes Getreidefeld unter blauem Himmel. Nun sind diese Getreidefelder zerstört. In der von Russland besetzten Ukraine konfisziert die Armee des Kremls die Getreidebestände und Maschinen. Das erinnert einige an eine dunkle Vergangenheit – die Zeiten der sowjetischen Beschlagnahme der Ernten und der verheerenden Hungersnot der 1930er Jahre. Heute bombardiert die russische Artillerie Getreidelager in der gesamten Ukraine – und zwar bewusst. Und russische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer blockieren ukrainische Schiffe mit Weizen und Sonnenblumenkernen. Die Folgen dieser schändlichen Handlungen sind für alle sichtbar. Weltweit schießt der Weizenpreis in die Höhe. Und es sind schwache Länder und gefährdete Bevölkerungsgruppen, die am stärksten davon betroffen sind. Die Brotpreise im Libanon sind um 70% gestiegen, und Lebensmittel aus Odessa konnten nicht nach Somalia geliefert werden. Zudem hortet Russland nun seine eigenen Lebensmittelexporte als eine Form der Erpressung – Lieferungen wurden gestoppt, um die Weltmarktpreise steigen zu lassen, Weizen wird gegen politische Unterstützung gehandelt. Dahinter steckt nur ein Gedanke: Russland nutzt Hunger und Getreide, um Macht auszuüben.

Auch hier ist unsere Antwort zwingend eine stärkere Zusammenarbeit und Unterstützung auf europäischer und globaler Ebene. Erstens arbeitet Europa hart daran, Getreide auf die globalen Märkte zu bringen. Derzeit werden 20 Millionen Tonnen Weizen in der Ukraine blockiert. 5 Millionen Tonnen Weizen pro Monat wurden im Normalfall exportiert. Heute sind das nur mehr 200 000 Tonnen bis 1 Million Tonne. Wenn wir diese Bestände mobilisieren, können wir der Ukraine dringend benötigte Einnahmen verschaffen und dem Welternährungsprogramm den dringend benötigten Nachschub. Dafür richten wir Solidaritätskorridore zwischen der Ukraine und unseren Häfen ein. Wir finanzieren verschiedene Verkehrsträger, damit das Getreide der Ukraine die schwächsten Länder der Welt erreichen kann. Zweitens steigern wir unsere eigene Produktion, um die globalen Lebensmittelmärkte zu entlasten. Und wir arbeiten mit dem Welternährungsprogramm zusammen, damit gefährdete Länder die verfügbaren Vorräte und zusätzlichen Waren zu erschwinglichen Preisen bekommen können. Die globale Zusammenarbeit ist das Gegenmittel gegen Russlands Erpressung.

Drittens unterstützen wir Afrika dabei, seine Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten zu verringern. Noch vor 50 Jahren konnte Afrika alle benötigten Lebensmittel selbst herstellen. Länder wie Ägypten waren jahrhundertelang die Kornkammern der Welt. Der Klimawandel führte dann zu Wasserknappheit, und Hunderte Quadratkilometer fruchtbares Land wurden zur Wüste – Jahr für Jahr. Afrika ist jetzt stark von Lebensmittelimporten abhängig – und das macht es anfällig. Daher ist eine Initiative zur Stärkung der Produktionskapazität Afrikas entscheidend, um den Kontinent krisenfester zu machen. Die Herausforderung besteht darin, die Landwirtschaft an ein wärmeres und trockeneres Umfeld anzupassen. Innovative Technologien können uns helfen, deutliche Fortschritte zu erzielen. Unternehmen weltweit testen bereits High-Tech-Lösungen für eine klimaschonende Landwirtschaft. Zum Beispiel mit erneuerbarer Energie betriebene Präzisionsbewässerung. Oder vertikale Landwirtschaft. Oder Nanotechnologie, die den Einsatz fossiler Brennstoffe für die Herstellung von Düngemitteln verringern kann.

Meine Damen und Herren,

die Zeichen einer wachsenden Ernährungskrise sind deutlich sichtbar. Wir müssen dringend handeln. Aber es gibt auch Lösungen – heute und in der Zukunft.

Daher arbeiten wir gemeinsam mit Präsident El-Sisi daran, die Auswirkungen des Krieges mit einer Veranstaltung zu Ernährungssicherheit und Lösungen in Europa und in der Region abzufedern. Es ist an der Zeit, negativen Abhängigkeiten ein Ende zu bereiten. Es ist an der Zeit, neue Verbindungen zu schaffen. Es ist an der Zeit, alte Ketten durch neue Bindungen zu ersetzen. Stellen wir uns gemeinsam dieser enormen Herausforderung. Ganz im Geist von Davos.

Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
24. Mai 2022
Autor
Vertretung in Luxembourg