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Vertretung in Luxemburg
Erklärung2. Februar 2023Vertretung in LuxembourgLesedauer: 9 Min

Erklärung von Präsidentin von der Leyen auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj

Visit of Ursula von der Leyen, President of the European Commission, to Ukraine

Vielen Dank, Herr Präsident, lieber Wolodymyr,

ich bin froh, wieder in Kiew zu sein. Ich möchte das aufgreifen, was sie gerade zu unserem Treffen gesagt haben. Dies ist tatsächlich mein vierter Besuch – mein vierter Besuch. Aber dieses Mal bin ich nicht allein. Ich bin mit dem Kollegium der Kommissionsmitglieder gekommen – meinem Team der Kommissarinnen und Kommissare. Die Mitglieder der Kommission und die ukrainische Regierung sitzen heute gemeinsam an einem Tisch, sodass wir nun Hand in Hand arbeiten können, nicht nur um das ukrainische Volk zu unterstützen, sondern auch um das Fundament für die Zukunft der Ukraine in der Europäischen Union zu legen. Der rücksichtslose Angriff Putins auf die Ukraine hat vor fast einem Jahr begonnen. Es war ein Jahr des Leidens, aber auch ein Jahr, in dem das ukrainischen Volke heldenhaften Mut bewiesen hat. Und es war ein Jahr eindrucksvollen Zusammenhalts der Weltgemeinschaft. Europa steht der Ukraine seit dem ersten Tag zur Seite. Denn wir wissen, dass die Zukunft unseres Kontinents hier entschieden wird. Wir wissen, dass Sie für mehr kämpfen als lediglich für sich selbst. Hier steht die Freiheit auf dem Spiel. Dies ist ein Kampf der Demokratien gegen autoritäre Regime. Putin versucht, die Existenz der Ukraine zu leugnen, aber er gefährdet stattdessen die Zukunft Russlands. Unser heutiger Besuch in Kiew ist ein sehr klares Signal: Die gesamte Europäische Union steht der Ukraine zur Seite, und zwar auf lange Sicht. Wir setzen uns für die Ukraine ein, weil wir für die Grundrechte und für die Achtung des Völkerrechts eintreten.

Als erstes möchte ich daher das Thema ansprechen, das auch Sie schon erwähnt haben: die wirtschaftliche Sicherheit für die Ukraine. Wir haben im vergangenen Jahr kontinuierliche und vorhersehbare Finanzhilfe versprochen, und wir haben dieses Versprechen gehalten. Vor zwei Wochen haben wir die erste Tranche in Höhe von 18 Mrd. EUR für 2023 bereitgestellt. Insgesamt beläuft sich die wirtschaftliche, humanitäre und militärische Unterstützung der Europäischen Union für die Ukraine seit Beginn des Krieges auf fast 50 Mrd. EUR. Es ist wichtig, dass wir die wirtschaftliche Sicherheit unserer Freunde in der Ukraine gewährleisten. Zugleich tragen wir zur Energieversorgungssicherheit der Ukraine bei – auch diesen Punkt haben Sie schon angesprochen.

Putins unablässige Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur sind zielgerichtet. Er versucht, das ukrainische Volk in diesem Winter ohne Heizung, Energie und Wasser zu zermürben. Doch wir arbeiten gemeinsam und unermüdlich an der Wiederherstellung lebenswichtiger Energieinfrastrukturen. Das fängt bei den ukrainischen Haushalten an. So stehen ab dieser Woche den ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern auf den Postämtern LED-Lampen zur Verfügung. Dies sind die ersten Chargen der 30 Millionen LED-Lampen, die wir versprochen haben. Und ich freue mich, heute mitteilen zu können, dass wir dieses Ziel noch übertreffen werden. Wir können nun 35 Millionen LED-Lampen bereitstellen. Wir liefern Ausrüstung, um das ukrainische Stromnetz funktionsfähig zu halten, und wir stellen sicher, dass trotz der Angriffe Strom durch das Netz fließt. Wir leisten also sehr konkrete, praxisnahe Hilfe. Heute kann ich beispielsweise ankündigen, dass wir 2400 zusätzliche Generatoren zur Verfügung stellen – zusätzlich zu den 3000, die bereits seit Kriegsbeginn geliefert wurden. Außerdem werden wir zusammen mit den Mitgliedstaaten in der Energiegemeinschaft mehr als 150 Mio. EUR für den Kauf lebenswichtiger Energieausrüstung für die Ukraine bereitstellen. Außerdem öffnen wir unsere Energieplattform für den gemeinsamen Einkauf von Gas für die Ukraine. Sie kennen das Prinzip: Wir wollen unsere gemeinsame Marktmacht bestmöglich nutzen. So werden wir, lieber Wolodymyr, diesen Winter – und noch viele weitere – überstehen.

Im Energiebereich haben wir uns auch mittel- und langfristige Ziele gesetzt. So werden wir gemeinsam mit dem Ausbau erneuerbarer Energiequellen beginnen. Wolodymyr, Sie haben kürzlich gesagt, dass die Ukraine eine führende Rolle bei moderner grüner Energie übernehmen will – zu Recht! Das ist genau das richtige Ziel, und es ist realistisch. Erneuerbare Energien werden nicht nur saubere Energie liefern; sie werden auch die Energieversorgungssicherheit der Ukraine verbessern. Denn diese Energie wird selbst erzeugt, und ein dezentrales Energiesystem ist schlicht und einfach sicherer. Daher arbeiten wir nun an der Bereitstellung umfangreicher Finanzmittel für Solarpaneele, die in der gesamten Ukraine eingesetzt werden können. Wir werden die Mitgliedstaaten und vertrauenswürdige Partner auffordern, sich dieser Initiative anzuschließen. Ziel ist es, Strom für öffentliche Gebäude zu erzeugen und beispielsweise Krankenhäusern, Feuerwehrzentralen oder Schulen eine stabile Versorgung durch solche Solarpaneele auf öffentlichen Gebäuden zu ermöglichen. Als letzten Punkt im Bereich der Energieversorgungssicherheit möchte ich ansprechen, dass wir heute eine Vereinbarung über Gas aus erneuerbaren Quellen wie Biomethan oder Wasserstoff unterzeichnen. Das sind ausgesprochen konkrete Schritte in Richtung des grünen Wiederaufbaus der Ukraine.

Tatsächlich ist der Wiederaufbau das allumfassende Thema. Wir befinden uns gemeinsam in diesem Kampf, und wir werden dieses schöne Land gemeinsam wiederaufbauen. Und hier möchte ich kurz darauf eingehen, dass der Wiederaufbau jetzt beginnt, mit einer raschen Erholung. Deshalb arbeiten wir gemeinsam daran, 1 Mrd. EUR für den Start dieser raschen Erholung bereitzustellen. Damit können wir sofort loslegen, aber natürlich soll noch mehr dazukommen.

Das große Thema ist, wie gesagt, der Wiederaufbau. Und hier kommt Unterstützung aus der ganzen Welt. Es gibt nun die Koordinierungsplattform der G7-Staaten. Die Plattform wird dazu beitragen, die internationale Hilfe zu koordinieren und Ihre Reformagenda zu unterstützen. Und dann gibt es einen Motor: das Sekretariat, das von Vertretern Ihrer Regierung und der Kommission geleitet wird und das sowohl hier in Kiew als auch in Brüssel vertreten ist. Die G7-Länder und weitere Staaten sowie internationale Finanzinstitutionen sollen nun Expertinnen und Experten in dieses Sekretariat entsenden. Wir bündeln also unsere Anstrengungen, um den wirtschaftlichen Aufschwung und den Wiederaufbau zu einem Erfolg zu machen.

Meine zweite Botschaft heute lautet: Putin muss für seinen schrecklichen Krieg bezahlen. Vor Beginn dieses Krieges haben wir sehr deutlich auf die erheblichen wirtschaftlichen Kosten hingewiesen, die Russland bei einem Einmarsch in die Ukraine entstehen werden. Russland zahlt heute einen hohen Preis – unsere Sanktionen schwächen die russische Wirtschaft und versetzen sie um eine Generation zurück. Unsere Preisobergrenze für Rohöl kostet Russland bereits rund 160 Mio. EUR pro Tag. Und wir werden den Druck weiter erhöhen. Wir werden mit unseren G7-Partnern eine zusätzliche Preisobergrenze für russische Erdölerzeugnisse einführen. Und bis 24. Februar, also genau ein Jahr nach Beginn der Invasion, wollen wir das zehnte Sanktionspaket beschließen. Russland wird auch für alle Schäden aufkommen und zum Wiederaufbau der Ukraine beitragen müssen. Daher prüfen wir gemeinsam mit unseren Partnern, wie öffentliche Vermögenswerte aus Russland für die Ukraine genutzt werden können.

Und Russland muss vor Gericht für seine mutwilligen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Strafverfolger aus der Ukraine und der Europäischen Union arbeiten bereits zusammen. Wir sammeln Beweise. In einem ersten Schritt – und das sind erfreuliche Nachrichten – wird in Den Haag ein internationales Zentrum für die Verfolgung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine eingerichtet. Dieses Zentrum kümmert sich um die Erhebung von Beweismitteln. Es wird Teil der gemeinsamen Ermittlungsgruppe, die von unserer Agentur Eurojust unterstützt wird. Die Arbeiten mit Eurojust, der Ukraine, den Partnern der gemeinsamen Ermittlungsgruppe sowie den Niederlanden werden schon bald beginnen. Der Täter muss zur Rechenschaft gezogen werden.

Meine dritte Botschaft heute betrifft die Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union. Lieber Wolodymyr, Ihre Ausdauer, die Ausdauer Ihres Volkes und Ihre Entschlossenheit, der Europäischen Union beizutreten, sind beeindruckend. Ihren Antrag auf EU-Mitgliedschaft haben Sie vorbildlich vorbereitet – das kann ich aus meiner Erfahrung heraus sagen. Sie wurden ein Kandidatenland, während Sie sich gegen eine Invasion stemmen. Sie machen weiterhin beeindruckende Fortschritte, um die sieben Schritte in der Stellungnahme der Kommission abzuarbeiten. Es ist beruhigend zu sehen, dass Ihre Antikorruptionsstellen bei der Aufdeckung von Korruptionsfällen wachsam sind und wirksam arbeiten. Außerdem ist es lobenswert, dass Sie auf politischer Ebene so rasch reagiert haben, um sicherzustellen, dass die Korruptionsbekämpfung zu greifbaren Ergebnissen führt und weiter intensiviert wird. Und während die Ukraine auf dem europäischen Weg vorankommt, bauen wir die Hindernisse zwischen unseren Volkswirtschaften und Gesellschaften noch weiter ab. Wir schlagen der Ukraine heute vor, sich wichtigen europäischen Programmen anzuschließen. Das wird der Ukraine in vielen Bereichen Vorteile verschaffen – ähnlich wie bei einer EU-Mitgliedschaft. Wir werden dies nun auf unserer Arbeitssitzung mit den Ministerinnen und Minister und den Kommissionsmitgliedern erörtern. Auf die Einzelheiten werde ich in der nächsten Pressekonferenz eingehen.

Last but not least mein abschließender Punkt: Unsere Menschen, unsere Unternehmen und unsere Städte rücken immer näher zusammen. Im vergangenen Jahr, lieber Wolodymyr, haben Sie einen Aufruf zu Städtepartnerschaften gestartet. Die Städte haben Sie gehört und sind Ihrem Aufruf gefolgt. Mittlerweile haben 100 große Städte in der Europäischen Union Partnerschaften mit 36 ukrainischen Städten geschlossen, beispielsweise München mit Kiew und Turku mit Charkiw. Fast 1000 kleinere Städte in der Europäischen Union haben Partnerschaften mit Gemeinden – Hromadas – in der Ukraine. Und sie sind bereit, beim Wiederaufbau ihrer Partnerstädte in der Ukraine zu helfen, so wie Sie darum gebeten hatten. Unser Netzwerk Eurocities hat bereits ein Projekt zum nachhaltigen Wiederaufbau von Städten in der Ukraine ins Leben gerufen. Das ist eine großartige Sache, denn Stadtplaner, Ingenieure und Architekten sind mit an Bord. Und das Konzept des Neuen Europäischen Bauhauses wird ihnen als Inspiration dienen. Gemeinsam mit Partnern in der Ukraine werden sie ein Programm zum Kapazitätsaufbau auf den Weg bringen. Dabei geht es darum, Wissen für den intelligenten Wiederaufbau auszutauschen. Ein Beispiel ist das Recycling von Beton, wodurch die Ukraine die Hälfte des Schutts aus zerstörten Gebäuden für einen besseren Wiederaufbau nutzen könnte. Unser LIFE-Programm wird in einem ersten Schritt 7 Mio. EUR bereitstellen, um die Initiative auf den Weg zu bringen. Unsere Vision besteht also darin, aus der Zerstörung des Krieges Chancen zu schaffen, die der Ukraine eine schöne und gesunde Zukunft ermöglichen.

Dieser Angriffskrieg hat so viele Leben gekostet. Die First Lady Olena Selenska hat mir von dem immensen Leid der Waisenkinder berichtet. Putins Krieg hat ihnen ihre Eltern genommen und ihr Leben völlig aus der Bahn geworfen. Wir können das nicht rückgängig machen, aber wir können ihren Schmerz lindern und ihnen so gut es geht zur Seite stehen. Und das nicht in Heimen, wie Sie gesagt haben, sondern durch Betreuung in Familien. Wir wollen, dass diese Kinder in einem glücklichen Umfeld aufwachsen, das ihnen Vertrauen und Stärke schenkt. Seien Sie versichert, dass wir die Ukraine dabei unterstützen werden, ihren Waisenkindern die bestmögliche Hilfe zur Verfügung zu stellen. Wir werden unsere Erfahrungen teilen und finanzielle Unterstützung anbieten. Als erstes stellen wir 10 Mio. EUR bereit, um die Ukraine bei der Ausarbeitung einer modernen Kinderbetreuungsstrategie zu unterstützen. Dies umfasst den Aufbau von Kapazitäten und ein Partnerschaftsprojekt. Denn meiner Meinung nach ist es wichtig, dass die Ukraine mit den europäischen Mitgliedstaaten zusammenarbeitet, die einen ähnlichen Prozess durchlaufen haben, sodass dank der Erfahrungen Fehler vermieden und bewährte Verfahren angewandt werden können. Wir können diesen Kindern nicht die Eltern zurückbringen. Aber wir können ihre Zukunft in unseren Köpfen und in unseren Herzen behalten und das Bestmögliche für sie tun.

Lieber Wolodymyr, unsere Teams krempeln jetzt die Ärmel hoch. Die Arbeit läuft bereits. Auf unserer Tagesordnung stehen mehr als 20 Themen, es gibt also viel zu diskutieren. Es ist großartig, hier wieder zu sein, und ich freue mich sehr auf die Gespräche heute Nachmittag.

Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
2. Februar 2023
Autor
Vertretung in Luxembourg